Ukraine: Kernkraft im Kreuzfeuer
Russische Raketen auf ein ukrainisches Atomkraftwerk sorgten für Beunruhigung – und werfen neues Licht auf die Energiewende in Europa. Welche Gefahr geht im Krieg von Nuklearanlagen aus?
Russische Raketen auf ein ukrainisches Atomkraftwerk sorgten für Beunruhigung – und werfen neues Licht auf die Energiewende in Europa. Welche Gefahr geht im Krieg von Nuklearanlagen aus?
Die Geschichte der zivilen Nutzung der Kernkraft wurde durch die Reaktorkatastrophe im Block IV des AKW Tschernobyl in zwei Teile gespalten. War Kernkraft zuvor die Zukunftstechnologie, die bald auch Autos und Flugzeuge antreiben würde, galt sie nach dem 26. April 1986 als unheimliche Bedrohung. Die Erinnerungen an Tschernobyl wurden dieser Tage wieder wach, als am 25. Februar die russische Armee die Kontrolle über den Unglücksreaktor übernahm. Allein durch die dortigen Truppenbewegungen wurde genügend radioaktiver Staub aufgewirbelt, sodass ukrainische Messanlagen leicht erhöhte Strahlenwerte registrierten. Darüber hinaus trafen russische Raketen ein Lager für Atommüll nahe Kiew sowie ein Ausbildungsgebäude des AKW Saporischschja – das mit sechs Reaktorblöcken das größte Kernkraftwerk Europas ist.
„AKWs in Kriegsgebieten sind ein großes Problem, weil sie verletzbare Objekte sind“, sagte der Risikoforscher Nikolaus Müllner von der Universität für Bodenkultur Wien (BOKU) gegenüber der APA. „Bei der Risikoeinschätzung wird eine lange Liste hinsichtlich allerlei Naturgefahren abgearbeitet – ein Krieg ist aber nicht darunter.“ Die strategische Bedeutung von Kraftwerken ist offensichtlich: Ohne Strom kann der Gegner seine Streitkräfte nicht ausrüsten, transportieren oder koordinieren. Daher ist klar, dass die ukrainischen Kernkraftwerke Ziele der russischen Armee sind, vor allem das AKW Saporischschja. Die südukrainische Anlage liegt nahe der annektierten Krim und produziert 50 Prozent des Stroms der Ukraine. Kein Wunder also, dass es heftige Kämpfe um das Kraftwerk gab. Obwohl es nicht im Interesse Russlands liegen kann, die Reaktoren zu beschädigen, können Raketen danebengehen. Was würde bei einem Treffer passieren?
Paradigmenwechsel in Europa
AKWs sind mit starken Barrieren ausgestattet, die das Freiwerden von Radioaktivität verhindern sollen. So ist der Reaktorkern in Stahlbeton gehüllt. Dieses „Containment“ soll dem gewaltigen Druck einer Kernschmelze standhalten. Vergangene Reaktorunfälle zeigen, dass das nicht immer klappt. AKWs sind allerdings nicht darauf ausgelegt, schweres Geschützfeuer auszuhalten. Denn selbst wenn das Reaktorgebäude selbst nicht getroffen wird, kann die Stromversorgung der Kühlsysteme lahmgelegt werden. Hier sind zwar Notstrom-Aggregate vorgesehen, die die Kühlung für kurze Zeit gewährleisten; doch auch die Aggregate könnten zerstört werden.
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