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Unverläßliche Anzeigen, ratlose Mannschaft...

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Erst ein Jahr nach der Beinahe-Katastrophe von Harrisburg war es möglich, in die Luftschleuse am Eingang des Reaktorgehäudes vorzudringen und einen Blick in das Innere zu werfen. Nun sind auch die ersten umfassenden Darstellungen des Unglücks verfügbar: Der Bericht der von Präsident Carter eingesetzten Untersuchungskommission („Der Störfall von Harrisburg”) und ein darauf basierendes Sachbuch (Rainer Paul: „Die Lektion”). Diese Veröffentlichungen offenbaren eine schaudererregende Fülle von Konstruktionsmängeln, Fehlmanagement, Leichtsinn und Verantwortungslosigkeit. Wer sie gelesen hat, findet leichter zu einem Urteil über die Kernenergie-Risiken. Hier nur eine kleine Auswahl aus dem Material.

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Erst ein Jahr nach der Beinahe-Katastrophe von Harrisburg war es möglich, in die Luftschleuse am Eingang des Reaktorgehäudes vorzudringen und einen Blick in das Innere zu werfen. Nun sind auch die ersten umfassenden Darstellungen des Unglücks verfügbar: Der Bericht der von Präsident Carter eingesetzten Untersuchungskommission („Der Störfall von Harrisburg”) und ein darauf basierendes Sachbuch (Rainer Paul: „Die Lektion”). Diese Veröffentlichungen offenbaren eine schaudererregende Fülle von Konstruktionsmängeln, Fehlmanagement, Leichtsinn und Verantwortungslosigkeit. Wer sie gelesen hat, findet leichter zu einem Urteil über die Kernenergie-Risiken. Hier nur eine kleine Auswahl aus dem Material.

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Mittwoch, 28. März 1979, vier Uhr früh. Das fast noch funkelnagelneue Kernkraftwerk TMI 2 (TMI steht für „Three Miles Island”) bei Harrisburg arbeitet mit voller Leistung. TMI 1 ist seit einiger Zeit abgeschaltet. 44 Sekunden nach 4 Uhr früh ist es auch TMI 2 und nun zeigt sich, was geschehen kann, wenn Konstruktionsfehler, Organisationsmängel, Leichtsinn und Gewinnsucht zusammenwirken.

36 Sekunden nach 4 Uhr früh fällt die erste Kühlmittelpumpe aus. Zwei Sekunden später sind Turbine und Generator automatisch ausgeschaltet, weitere sechs Sekunden später senken sich die Steuerstäbe automatisch in die dafür vorgesehenen Räume zwischen den Brennelementen und beenden den Kernspaltungsprozeß.

Doch die Nachzerfallswärme - über deren Gefährlichkeit der Laie bis dahin wenig gehört hat - heizt den Reaktorkern weiter auf, deshalb schaltet sich automatisch das Notkühlsystem ein. Damit beginnt ein verhängnisvolles Teamwork von unausgereifter Technik und hilflosen, schlechf ausgebildeten Menschen.

Innerhalb von zwei Minuten leuchten 200 rote Alarmanzeigen auf. Eine Situation, die der Bedienungsmannschaft nicht unbekannt ist. Doch wo die Routine endet, beginnt ihre Ratlosigkeit.

Die Notkühlung arbeitet. Doch kein Wasser gelangt in das Reaktor-Druck-gefäß. Bei der Wartung der Notkühlung müssen deren Absperrventile geschlossen werden, was niemals bei laufendem Reaktor geschehen darf. In Harrisburg ist es wenige Tage zuvor aber doch so gehandhabt worden, denn jeder Reaktorstillstand bedeutet finanziellen Verlust. Keine Automatik verhindert das Sperren der Notkühlung bei laufendem Kraftwerk, keine Klingel schrillt. Nach der Wartung der Notpumpen waren die Ventile nicht wieder geöffnet worden, oder jemand hatte sie irrtümlich wieder geschlossen. Die Untersuchungskommission konnte dies nicht klären.

Entgegen jeder psychologischen Logik leuchteten die Kontrollichter in der Schaltwarte bei ordnungsgemäß geöffneten Ventilen rot, bei geschlossenen grün. Und außerdem waren sie durch einen Wartungszettel verdeckt, der an einem anderen Bedienungselement baumelte.

Acht kostbare Minuten vergehen. Der Störfall von Harrisburg hat begonnen. Die Kommission unter Professor John G. Kemeny wird sich später über vieles wundern.

Nach Wartungsarbeiten füllte der Operateur Checklisten aus, unterschrieb sie und legte sie ab. Wo? Im Mistkübel.

Das Reaktorgebäude wird zur radioaktiven Sauna, Wasser ergießt sich auf den Boden, sammelt sich im „Sumpf, Pumpen springen automatisch an und fördern - automatisch! 1600 Liter radioaktives Wasser in ein Nebengebäude. In einen für ungefährliche Abwässer bestimmten Tank. Radioaktive Pfützen bilden sich, Gebläse drücken automatisch! - die dem Wasser entweichenden radioaktiven Gase ins Freie.

Techniker springen hektisch an den Schaltkonsolen umher. Ihr*Chef wälzt Betriebsanleitungen. Der Datendruk-ker des Computers kommt nicht mehr mit, schließlich verklemmt sich die Papierrolle derart, daß das Gerät für eineinhalb Stunden ausfällt.

Dampfblasen bringen Pumpen und Rohre der Notkühlung zum Schlagen und Schwingen. Niemand hat den Technikern gesagt, daß sie sehr viel mehr aushalten. Sie bekommen Angst, glauben, daß ohnehin das Schlimmste vorbei ist und schalten die Notkühlung ab.

In nur zweijähriger Ausbildung haben sie wenig mitbekommen, was ihnen in echten Notsituationen hilft. Dafür wurden sie darauf getrimmt, einen zu hohen Wasserstand im Reaktor- und Kühlsystem zu vermeiden. Während Dampf und Wasserstoffgas das Wasser aus dem Druckgefäß verdrängen und daher der Wasserstand in einem Aus-gleichstank steigt, fürchten sie ein Zuviel statt ein Zuwenig an Kühlung!

Unterdessen steigt die Hitze, der inzwischen reparierte Drucker speit.Daten, der Computer löst eine weitere Alarmklingel aus und spielt nun auch noch verrückt. In den folgenden 16 Stunden (!) gibt er nur noch Fragezeichen von sich.

Wäre es nicht so alarmierend, so wäre Harrisburg zum Lachen: Viele Details des Unfallherganges könnten Chaplin oder die Marx Brothers oder Peter Seilers erfunden haben. Da lesen die Techniker eine Artzeige von 90.000 rem in der Kuppel ab - und glauben es nicht. Da sind alle Telefone blockiert und der Reaktorhersteller kann seine Empfehlungen nicht durchgeben, bis zufällig einer der Herren ein paar Geheimnummern in seiner Brieftasche findet. Da wird John Herbein, der persönliche Beauftragte des Präsidenten, in eine nahegelegene Gärtnerei zum Telefon gerufen, Carter ist am Apparat.

Da wissen Meßtrupps nicht mit ihren Geräten umzugehen und mit den gewonnenen Daten nichts anzufangen. Da stellt sicii heraus, daß Überwachungsgeräte in der Umgebung seit fünf Jahren nicht mehr geeicht wurden. Da stellt sich heraus, daß in Harrisburg wichtige Ventile mit einer Masse abgedichtet wurden, die allenfalls in einer Hinterhofwerkstatt etwas zu suchen hätte, um den Reaktor nicht abstellen zu-müssen.

Da schießt das Kühlwasser aus einem hängengebliebenen Ventil und niemand merkt es -stundenlang!

Ganz zu schweigen von den Lügen der Elektrizitätsgesellschaft, die TMI I und TMI 2 betrieb, die die Öffentlichkeit bewußt und laufend falsch informierte und damit selbst Carter und des- -sen Untersuchungskommission vor den Kopf stieß.

Als die Kommission ihre Arbeit aufnahm, kam sie schnell zu der Erkenntnis, jede Befragung der Elektrizitätsgesellschaft Metropolitan Edison, der das Kernkraftwerk auf Three Miles Island gehört, sei ohne Vereidigung völlig zwecklos. Worauf der Kongreß eiligst-der Kommission das Recht verschaffte, alle Zeugen zu vereidigen . ..

Es sind vor allem die Kraftwerksbetreiber aller Länder, die in den letzten Monaten die Parole ausgaben, in Three Miles Island habe lediglich der Mensch versagt und eine vollautomatische Steuerung, die auch in Krisenzustanden ohq,e menschliches Zutun auskomme, könnte die Wiederholung eines solchen Dramas verhindern.

Das klingt ziemlich lächerlich angesichts der Tatsache, daß der Computer von TMI 2 kollabierte und sich hysterischer verhielt als die sich fehl verhaltenden Menschen.

„Der Reaktorhersteller wußte seit Monaten, daß die Druckwasserstandsanzeige seiner Reaktoren unverläßlich war.”

Und es fragt sich ja auch sehr, warum ein Computer aus falschen Meßdaten richtigere Schlüsse ziehen sollte als Menschen. Der Reaktorhersteller Bab-cock Wilcox wußte nämlich seit Monaten aufgrund von Störfällen in anderen Kraftwerken, daß die Druckwasserstandsanzeige seiner Reaktoren unverläßlich und daß es unmöglich war, aus ihr auf die Kühlungsverhältnisse im Reaktorinneren zu schließen.

Bloß: Die TMI-2-Bedienungsmann-schaft hat davon niemals etwas erfahren. •

Es ist auch völlig unklar, was die Propheten einer vollautomatischen Reaktorsteuerung zu dem Optimismus be-' rechtigt, bei der Planung einer solchen komplexen und wohl auch störungsanfälligen Regeleinrichtung könnten sich weniger Fehler einschleichen als bei der Konstruktion des wesentlich einfacheren TMI-2-Reaktors und bei der Analyse der künftigen Betfiebsabläufe und möglichen Pannen.

Das Sensorium für Unvorhergesehenes, die Angst vor weiteren Fehlerquellen, wurde offenbar durch Harrisburg vielen Menschen geschärft, nur nicht denen, die es anginge.

So bleiben denn viele und schwerwiegende Fragen offen.

•Durch Bedienungsfehler konnten in Harrisburg Dampf und Wasserstoffgas (dessen Explosivkraft drei Tonnen TNT entsprochen hätte) das Kühlwasser aus dem Reaktor-Kern verdrängen. Bisher haben wir immer gehört, daß sich bei einem GAU (GAU heißt: „größter anzunehmender. Unfall”), also beim Bruch einer Hauptkühlmittelleitung, die Notkühlsysteme einschalten und daher nichts passieren kann.

Wenn nun aber beim Bruch einer solchen Hauptkühlmittelleitung ein Druckverlust und durch den Druckverlust Dampf entstünde? Könnte es dann nicht, ganz ohne Bedienungsfehler, anderswo zu einer Situation kommen, die der in Harrisburg verteufelt ähnlich sähe?

Foto: Heyne

Die Wirklichkeit sieht so aus: An Österreichs Grenzen entstehen tschechoslowakische Kernkraftwerke - dem Vernehmen nach ohne Notkühlsysteme und ohne Sicherhei'tsgebäude.

In der -Sowjetunion wurde dieser Tage die Stromerzeugung im großen Maßstab in einem Schnellen Brüter in Angriff genommen. Der Schnelle Brüter wird mit flüssigem Natrium gekühlt, das seine Wärme in einem Wärmetauscher an Wasser abgibt. Die Begegnung von Natrium und Wasser verläuft explosiv, die Folgen einer Un-dichtheit zwischen Natrium- und Wasserkreislauf wären schrecklich.

Trotzdem gibt es Leute, die uns mit einem seltsamen wissenschaftlichen Hurra-Patriotismus den Marsch in eine von Atomstrom erhellte Zukunft verordnen . .

HELLMUT BUTTERWECK

DER STÖRFALL VON HARRISBURG. Der offizielle Bericht der von Präsident Carter eingesetzten Untersuchungskommission über den Reaktorunfall auf Three Miles Island. Mit Stellungnahmen von Robert Jungk und Wolfgang D. Müller. Erb Verlag GmbH. Düsseldorf 1979. 226 Seiten. öS 115.44.

DIE LEK TION. Harrisburg und die Folgen für unsere Zukunft. Heyne-Taschenbuch, Wilhelm -Hevne-Verlag, München 1980. 226 Seiten. öS 45.24.

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