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Zwischen H und Mg

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DIE EINSAMKEIT DES HERBSTES lastet Inter grauem Gewölk. Das Land südöstlich von Wien mischt Grün, Braun und Gelb zu verwaschenen Farben. Wie schwärzliche Pinsel-striche stehen an der Straße die Pappeln, von denen der Nordwestwind das alternde Laub pflückt. Linker Hand taucht für eine Weile die 7 doppeltürmige Fassade der Kirche von Maria-J.anzendorf auf. In Himberg warten an der Autobushaltestelle Arbeiter auf den Wagen, der sie zur Glasfabrik nach Moosbrunn bringen soll, bei der Spinnerei in Marienthal werfen Kinder abgefallene Kastanien in die bleigetönte Fischa. Vor uns taucht der Goldberg auf. Er wirkt mit seinen zweihundert Metern Höhe in dieser Ebene wie eine gebirgige Welle, die jederzeit bereit ist, auf den Turm der Kirche von Reisenberg herunterzustürzen. Wenn man die Richtung weiß, sieht man von hier aus südsüdwestlich den Reaktor: weißlich schimmert das Dach des aluminiumverkleideten zylindrischen Bauwerkes. Es scheint, als wäre an dieser Stelle die Wolkendecke dünner und schiene eine greise Sonne durch.

ES GIBT FÜNF SEIBERSDORF in Österreich; das niederösterreichische, eine Marktgemeinde von wenig mehr denn zehn Quadratkilometern Fläche, mit 346 Einwohnern in 71 Häusern, rund fünfundzwanzig Kilometer Luftlinie von der Bundeshauptstadt und zwanzig in gerader Strecke von der ungarischen Grenze entfernt, birgt das Gelände der Österreichischen Studiengesellschaft für Atomenergie, wo am 29. September 1960 die „Stunde Be“ dem jüngsten Zweig unserer Forschung schlug. Im Schaltraum der Reaktoranlage befindet sich eine Uhr. Ihre Stundenziffern zeigen nicht die üblichen Zahlen anderer Zeitweiser. Statt der Ziffern stehen Buchstaben: H (chemisches Zeichen, Anfangsbuchstabe von Hydrogenium = Wasserstoff) hat die Ordnungszahl 1 im System der Elemente und bezeichnet die erste Stunde, das chemische Zeichen für Magnesium Mg (Ordnungszahl 12) die zwölfte Stunde. Als der Bundespräsident auf einen Knopf drückte, als die Farbe der Leuchttafel wechselte, die Aufschrift „Reaktor in Betrieb“ sichtbar wurde, konnte man sagen: ..Es ist Be Uhr.“ Das chemische Zeichen für Beryllium, Be, Ordnungszahl 4, steht für die vierte Stunde. Die Stunde Be leitete einen neuen Abschnitt unserer Geschichte ein, unsere Atomzeit begann, und, um ein Goethe-Wort abzuwandeln: wir sind dabeigewesen.

IN DEM ZELT FÜR DIE FESTGÄSTE war freilich noch mehr an unwägbaren Eindrücken vorhanden, als die Reporter des Rund- und Bildfunks schildern konnten. Die Atmosphäre knisterte in Gegensätzen. Auf einige Viertelstunden konzentrierte sich Weltweite auf ein paar hundert Quadratmetern. In Wien tagte gerade die Generalkonferenz der Internationalen Atomenergiekommission. Von der weißen Hautfarbe angefangen über alle Abschattungen von Gelb, Braun und Schwarz — überall Anziehung und Abstoßung, reine Wissenschaft und politische Hintergründigkeit. Das einzige unter dem halben Dutzend Sprachen, welche zu hören waren, das alle Fachleute verschiedener Zunge und politischer Ansicht verstehen konnten, das blieben die chemischen Zeichen, die physikalischen Begriffe, die lateinischen Namen, die Spannungswerte. Getrennt wie die Welt waren auch die Sitzplätze der prominenten Delegationsgäste. Zur Rechten des Rednerpultes saßen die Angloamerikaner, zur Linken die Sowjets — unter ihnen im blauen Straßenanzug, ernst, verschlossen und blaß: Wjatscheslaw Michajlowitsch Molotow. „Das ist er“, sagte der eine der zwei Feuerwehrmänner nächst einem Scheinwerferpodium für die Fernsehleute. „Er“ kam nahezu beiläufig durch die geöffnete Schiebetür des Reaktorraumes, übersah mit seinen Landsleuten die Amerikaner, ging nach hinten, wo primitive Holzbänke für die „sonstigen“ Gäste standen und mußte erst nach vorne geholt werden. Mit starren Augen hinter dem Kneifer schaute er dann in irgendeinen Winkel oberhalb des Rednerpultes. In der Mitte aber saßen die Österreicher — und wer da symbolisch gesinnt war, der konnte meinen, sie waren der Brückenpfeiler zwischen den Köpfen einer noch nicht erbauten Brücke.

FUNKEN SPRANGEN von winzigen Redeteilen auf. wenn von der Wissenschaft und der Nutzung der Atomkraft für friedliche Zwecke und dem ursprünglichen, verheerenden Auslöser gesprochen wurde. Anders als in dieser geladenen Atmosphäre gaben sich das Versuchsgelände und sein Kern, der Reaktor, dem Besucher tags vorher. Die Seibersdorfer mit ihrem energischen Bürgermeister haben sich die Besorgnisse des ursprünglich ausersehenen benachbarten Götzendorf nicht zu eigen gemacht. Mit den Mitteln, die sie für 110 Hektar landwirtschaftlich wenig genutzten Bodens erhielten, haben die Seibersdorfer ein nahezu doppelt so großes landwirtschaftliches Gut erworben und den Bauern zuteilen können. Im November 1958 begann man zu bauen und leistete bis zum Eröffnungstage rund 100.000 Mannschichten. Zwei Drittel aller Beschäftigten waren Facharbeiter. Bei einem Spitzeneinsatz von 400 Personen betrug die Zahl der durchschnittlich Beschäftigten täglich zweihundert durch zwei Jahre hindurch. Seit Bau-: beginn waren in Seibersdorf mehr als 170 meist inländische Firmen auf dem Gelände von rund 11.000 Quadratmetern Baufläche tätig, Die österreichische Industrie hatte zusammen mit dem Handwerk erstmals Gelegenheit, sich an der Herstellung eines Reaktors zu beteiligen. Die dabei gemachten Erfahrungen werden es ermöglichen, daß sich unsere Industrie in den ausweitbaren internationalen Atommarkt einfügen kann.

DER EIGENTLICHE REAKTOR, ein massiver Betonklotz, nimmt sich, wenn man das Gelände betritt, sehr nüchtern aus. Will man ins Herz des Reaktors blicken, muß man zwei Stockwerke höher steigen. Von oben sieht man in eine große, wassergefüllte Öffnung von neun Metern Tiefe. Am Grunde befindet sich eine Platte mit 54 Öffnungen. In den mittleren von ihnen stecken die sogenannten Brennstoffelemente, lange, durchlochte Stäbe aus Uran 235 (Uran-Isotop, das im natürlichen Uran zu 0,7 Prozent enthalten ist). Diese Steuerungsstäbe, die zumeist aus Kadmium hergestellt werden, sind starke Elektronenfänger, imstande, die Umsatzgeschwindigkeit in dem Maße zu regeln, je mehr oder weniger tief sie in die Brennelemente eintauchen. Die bei der Spaltung von Uran 235 freiwerdende Wärme muß durch Kühlung entfernt werden. Zur Produktion von 5000 kW — etwa dem Jahresverbrauch von zwei bis drei Österreichern gleichkommend — wird nur ein Fünftelgramm Uran 235 benötigt. In dem Augenblick, da der Reaktor in Betrieb genommen wurde, mußte man sich vorstellen, es wäre ebenso, als zünde man sechshundert Eisenbahnwagen Kohle an. Die Füllung mit Uran 235 — es sind etwas mehr als drei Kilogramm — entspricht ungefähr 8300 Tonnen Anthrazit.

WELCHE PRAKTISCHEN DIENSTE kann ?ianjürr.die Zuk^njt erwarten? —, D„asn |st, die ra^e'fasir! jedes^Menscnenf 3er einen Kick in den Reaktor warf und dann in dem Schalt-

räum inmitten verhältnismäßig junger Leute in weißen Mänteln steht, deren Kragen und Revers mit gelben Streifen eingefaßt sind, dem Abzeichen der Atomwissenschaftler von Seibersdorf. Hier ist es viel stiller als in einem Laufkraftwerk. In den Ohren habe ich noch das Brausen des Urelements Wasser vom Werk Ternberg an der Enns, in dem ich vor sechs Wochen gestanden bin, das Donnern der Turbinen; vor Augen noch das grüne, stäubende Wasser und seinen Fall über die Kante der Staumauer. Hier in Seibersdorf, dessen Leistung auf 12.000, ja auf 25.000 Kilowatt erhöht werden kann, wird — so hören wir — Grundlagenforschung betrieben (Enträtselung der Kernkraft) und angewandte Forschung (Werkstoffkunde, Erzeugung von Radioisotopen für die verschiedenen Gebiete der Wissenschaft und Wirtschaft). Die weitverzweigten Laboratorien werden der Chemie, der Elektronik, der Medizin, der Landwirtschaft und — besonders wichtig — der Metallurgie für Forschungsarbeiten zur Verfügung stehen. Auch für die Schaffung von Atomkraftwerken können Vorstudien angestellt werden. Österreich ist zwar primär ein Land der Wasserkräfte mit einer unausgebauten Reserve von 30 Milliarden Kilowattstunden. Die Frage aber, ob auf der . Wasserreserve eine autarke Elektrizitätswirtschaft aufgebaut werden kann, wird von Fachleuten entschieden verneint.

ANDERE PROBLEME SIND AUS DEN GESICHTERN der Menschen abzulesen, die am Rande der Straße von Seibersdorf nach Wien, vor allem bis über Himberg hinaus, stehen. Diese Menschen, Frauen, Kinder, Bauern, Fabrik- und Landarbeiter, schauen dem Strom der blitzenden Straßenkreuzer mit den Zeichen CD und CC und den niedrigen Nummern nach. Diese Menschen fühlen sich selbst nur als Nummern. „Führen sie uns nur ein Spektakel vor, diese großen Herren?“ fragt an einer Straßenecke in Himberg ein älterer Mann. „Wollen sie uns ablenken? Ich glaube, solange sie an einer friedlichen Verwertung arbeiten, müssen wir hoffen, so schwer es einem fällt.“ Ich steige in den Bus mit bedrücktem Gemüt. Nebenan, bei den englisch sprechenden Japanern, fällt das schreckensträchtige Wort Hiroshima, hinter mir höre ich „Frieden“. „La paix“, „Peace“ - Tropfenfall der Sorge. Über den Erlen drüben am Schwe-chatufer kreist ein Schwärm Saatkrähen. Eine dunkle Wolke.

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