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Schrecken ohne Ende

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Es begann mit der Erbsünde: dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima am 6. August 1945. Die Bitte Einsteins und der mei-

sten Wissenschafter, die am Bau der Bombe mitgewirkt hatten, keine Atombombe auf besiedeltes Gebiet abzuwerfen, wurde von Präsident Truman abgelehnt: unter dem Druck von Generälen und Politikern, die ohne jede militärische Notwendigkeit Hunderttausende japanische Männer, Frauen und Kinder in den Atomblitzen von Hiroshima und Nagasaki verbrennen ließen, um die

volle Wirkung der neuen Waffe an Mensch und Menschenwerk zu erproben.

Die Atomindustrie wurde aus der Atomwaffe geboren. Auch aus dem Schuldgefühl ihrer Erfinder. Robert Oppenheimer, wissenschaftlicher Leiter des „Manhattanprojekts" in Los Alamos, wo die Bombe entstand, sagte Jahre später: „Wir Physiker haben die Sünde begangen, und niemand kann sie uns abnehmen."

Konnte nicht doch aus dem Furchtbaren Gutes entstehen? Die Idee des „friedlichen Atoms": die gewaltigste bisher bekannte Naturkraft zur Wärmegewinnung und in der Folge zur Stromerzeugung zu zähmen? Das war die Lichtseite. Und die Schattenseite: Jetzt wurde die Atomrüstung zum Kind der Industrie. Ohne sie keine Waffen, bis zum heutigen Tag! Ohne sie hätten Chirac und die Herrscher in Peking auf ihre letzten umstrittenen Tests verzichten müssen.

Von Anfang an wußte man: Die Atomtechnik verzeiht keine Fehler. Nur das Ausmaß möglicher Folgen wurde von der Industrie und den in ihrem Dienst stehenden Wissenschaftern verniedlicht. Freilich nicht von allen. Schon vor 19 Jahren erklärte Alvin Weinberg, weltbekannter Atomphysiker und Direktor des Oakridge National Laboratory bei einer IAEO-Tagung in Salzburg: „In Zukunft wird der Mensch wohl lernen müssen, Strahlungskatastrophen als natürliche Ereignisse zu akzeptieren, wenn er sich für eine nukleare Zukunft entscheidet."

Die Österreicher entschieden gegen die Atomzukunft. Doch wo sonst wurde und wird

„der Mensch" gefragt? Der zehnte Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl erhebt diese Frage für denkende Menschen in den Rang einer Schicksalsfrage. Sie ist eben jetzt Gegenstand zahlreicher Konferenzen und Diskussionen, auch bei uns. Herausragend eine Tagung der 1AEO Mitte April in Wien, in der „amtlich befugte" Experten und Politiker die Folgen des Unfalls und dessen Konsequenzen besprachen. Es war ein übles Schauspiel: der Versuch, alles auf technische Fehler und menschliches Versagen zu reduzieren; beides könne in Zukunft leicht vermieden werden. Die ärgsten Folgen seien überwunden, hieß es, mit hohem Lob für die Regierung, die für die Rückkehr der etwa hundertdreißigtausend Evakuierten in die verstrahlten Zonen wirbt. Ein Verbrechen, weil sie dort durch die ständige Aufnahme von- Nukleiden

aus der Nahrungskette Boden, Wasser, Pflanze, Tier, Mensch innerlich dauerbestrahlt werden, Sie tragen ein kleines Tschernobyl in sich ...

Fast gleichzeitig beriet, ebenfalls, in Wien, das „Ständige Tribunal der Völker", als Nachfolger des ehemaligen Rüssel Tribunals. 43 Wissenschafter und Experten aus zwölf Ländern standen der Jury mit Berichten, Forschungsergebnissen und Zeugenaussagen zur Verfügung. Sie waren Betroffene im doppelten Sinn des Wortes: als mitfühlende Augenzeugen und Helfer, als gewissenhafte unabhängige Forscher. Sie hatten in die Gesichter krebs-kranker Kinder geblickt, sie

waren der Frage der Geschädigten: „Werde ich jemals Kinder haben?" begegnet, auf die sie tröstlich zu antworten versuchten. Sie bestätigten die Worte von Professor Nesteren-ko, Direktor des Belorussischen Instituts für Strahlensicherheit: „Die Katastrophe im Tschernobyler Kernkraftwerk beeinflußte ganze Länder und Regionen. Millionen Menschen wurden von ihr betroffen, und die Folgen werden noch viele Jahre die Qualität des Lebens, die Gesundheit und das Schicksal von zukünftigen Generationen bestimmen ..."

Angesichts all dessen konn, te das Tribunal nur zu dem ausführlich begründeten einstimmigen Spruch kommen: „Die nukleare Option stellt eine dauernde Gefahr für die Menschheit dar und muß daher abgeschafft werden. Die Zukunft gehört dezentralisierten, alternativen Energiequellen, welche keine Ängste wecken und den Zielen einer demokratischen Gesellschaft angepaßt sind." Was für eine Vision!

Doch schon seit 1992 ist die internationale Atomindustrie zu einem Großangriff angetreten. Mit westlicher Hilfe und Kapital sollen in Rußland, der Ukraine und selbst im (noch) widerspenstigen Weißrußland zahlreiche im Bau befindlichen Reaktoren fertiggestellt und neue errichtet werden. Auch in unseren unmittelbaren Nachbarländern. Eben haben Rußland (!), Tschechien, Frankreich und Deutschland die Fertigstellung von Mochovce in der Slowakei beschlossen. Wir zahlen über EURATOM und die Europäische Bank für Entwicklung und nicht zuletzt als Gastland der IAEO, der Werbeagentur der Atomlobby, Hunderte Millionen an Steuergeldern für die Fortsetzung des Atomwettlaufs.

Die bittere Lehre aus

Tschernobyl lautet: Die Mächtigen haben nichts aus diesem anhaltenden Drama gelernt. Sie werden auch aus den vorprogrammierten künftigen Katastrophen, die sie selbst erwarten, nichts lernen, es sei denn, sie werden selBst ins Herz getroffen. Denn fremdes Leid läßt sie kalt.

Einsteins Wort muß ergänzt werden: Nicht nur unser Denken, auch das Fühlen von Millionen muß zu dem unausweichlichen Schluß führen: die Verantwortung für künftiges Leben fordert den Verzicht auf tödliche Technik.

Der Autor ist

freier Publizist

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