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Strahlende Todeszonen
Vor Tschernobyl kämpften alle Sowjetrepubliken um den Bau von milliardenschweren, prestigeträchtigen Kernkraftprojekten. Heute geht die Angst vor atomarer Verseuchung um.
Vor Tschernobyl kämpften alle Sowjetrepubliken um den Bau von milliardenschweren, prestigeträchtigen Kernkraftprojekten. Heute geht die Angst vor atomarer Verseuchung um.
Die sowjetische Atombehörde bekommt jetzt die Rechnung für den sorglosen Umgang mit dem atomaren „Geist aus der Flasche" präsentiert: Weite Gebiete des Sowjetreiches sind regelrecht zu Todeszonen verkommen.
In den fünfziger und sechziger Jahren wurden auf der Tschuk-tschen-Halbinsel (Nordost-Sibirien) Atomtests durchgeführt. Heute leidet die gesamte Bevölkerung an Tuberkulose. Bei Speiseröhrenkrebs hält man den Weltrekord. Die durchschnittliche Lebensdauer liegt bei 45 Jahren - elf Jahre weniger als offiziell angegeben. Neue Formen von Tumoren und Geschwüren lassen die einheimischen Rentierzüchter dahinsiechen. Die sowjetischen Medien berichten von einem „Tschernobyl im hohen Norden".
In den Steppen von Kasachstan befinden sich weite Zonen militärischen Sperrgebietes. Lange Zeit wurde in der Bevölkerung nur hinter vorgehaltener Hand über die „Geheimsache", die unterirdischen Atomversuche, gemunkelt. Erst nach einem Zwischenfall auf dem Testgelände von Semipalatinsk, wo nach einer Explosion radioaktive Gasschwaden über dem Gelände aufstiegen, wurden die erschreckten Bürger vergangenes Frühjahr aktiv. Eine Anti-Atombewegung mit dem Namen „Nevada" - in Anlehnung an das amerikanische Vorbild - wurde ins Leben gerufen. Kühn hat man sich bei „Nevada" dem Verbot aller unterirdischen Atomtests in der gesamten Sowjetunion verschrieben.
In einer Fernsehdokumentation wurden von den Aktivisten seltsame Zustände aufgedeckt: So gibt es in den Dörfern nahe dem Testgelände keine Friedhöfe. Die älteren Bewohner - nur wenige erreichen das Pensionsalter - werden nach Semipalatinsk umgesiedelt. Sinn der Taktik: Die Geburts- und Sterbedaten auf den Grabsteinen hätten dem Besucher unangenehme Auskünfte über die kurze Lebenszeit der Verstorbenen geben können.
In der Tat erregt kein Umweltthema die Gemüter mehr als die potentielle Gefahr eines zweiten Tschernobyl. Ob in Kasachstan, der Ukraine oder auf der Krim: Hunderttausende beteiligen sich an Unterschriftenkampagnen und Demonstrationen gegen den Bau weiterer Kernkraftwerke. Die mächtige Anti-Atombewegung in der Ukraine hat bereits die Streichung der Hälfte aller geplanten Bauten erzwungen. Die Energiebehörde jammert: Im Vorjahr hat sie ein Defizit von 140 Millionen Kilowattstunden an Atomstrom hinnehmen müssen.
In der Tatarischen Autonomen Republik kämpfen derzeit Umweltschützer und Wissenschaftergegen den von Moskau geplanten Kraftwerkskomplex bei Nischnekamsk. Der Bau wird just auf einer tekto-nischen Bruchzone errichtet. Seitl982 gab es hier drei Beben der Stärke sechs. Geologen warnen, daß die Bebentätigkeit in Zukunft noch zunehmen wird, weil aus dem Erdinneren übermäßig viel Erdöl und Erdgas gepumpt worden ist. Als Folge haben sich im Untergrund riesige Karsthohlräume gebildet.
Vor der Tragödie von Tschernobyl kämpften die Republiken verbissen um die Errichtung neuer Kernkraftwerke: Milliardeninvestitionen galten als allgemein anerkannte Wohltat. Wo das Ding dann hingebaut wurde, war sekundär. Die Hälfte aller sowjetischen Anlagen liegt in bedenklichen Zonen.
Die „Radiophobie" grassiert mittlerweile in der Sowjetunion. Nicht zu unrecht. Im Dezember berichteten die „Moskauer Nachrichten" über die Spätfolgen des Reaktorunfalls von Tschernobyl. Als im April 1986 der Reaktor explodierte, brachten westliche Zeitungen die Meldung: „2.000 Tote in Tschernobyl." Was damals als Zeitungsente galt, wird längst von den Fakten ein- und überholt.
Bei den Recherchen zu „Die große Lüge über Tschernobyl" stieß das Ref ormblatt schnell auf „ Sperrzonen der Glasnost". Sämtliche amtliche Untersuchungen tragen den Stempel „Geheim". Obduktionen an Verstorbenen und Totgeborenen werden in den verstrahlten Gebieten nicht mehr durchgeführt. Als ein neugieriger Mediziner Leichen öffnete, fand er in den Lungen große Mengen von sogenannten „heißen Teilchen". Zweitausend solcher Teilchen erzeugen garantiert Krebs, bei den Proben wurden bis zu 15.000 gefunden! Die überall lauernde Todesgefahr wird leichtsinnig übersehen: In Tschernobyl arbeiten derzeit 6.500 Personen, Schutzbekleidung wird aber nur im Reaktorinneren getragen.
Der Amtsschimmel trottet unverdrossen. In Zonen, die schon längst menschenleer sein müßten, werden Betriebe angesiedelt und Rieseninvestitionen getätigt. Für die Umsiedelung der Bewohner aus verstrahlten Dörfern aber fehlt das Geld. Der Bezirkssekretär von Na-roditschi, Walentin Budko, klagt: „Man hat uns zugesagt, daß 1989 338 Familien mit Kindern ausgesiedelt werden. Inzwischen ist es Herbst, und wir mußten in Dörfern mit 170 Curie erneut Kindergärten und Schulen öffnen."
Der weißrussische Volksdeputierte Alex Adamowitsch sprach in diesem Zusammenhang von einem „bürokratischen Mechanismus des Völkermordes". Obwohl die anderen Teilrepubliken weder Milch noch Fleisch aus Weißrußland haben wollen, sieht der Plan eine Verdoppelung der dortigen Produktion vor. Ein Drittel Weißrußlands ist verseucht, ein Fünftel der Ak-kerflächen (7.000 Quadratkilometer) sind „tot". In der Ukraine sind es 1.500, in Rußland 1.000 Quadratkilometer.
Als ein Abgesandter der WHO, Professor Pelleren, im Vorjahr die an Tschernobyl angrenzenden Bezirke besuchte, war er „ganz erschüttert" , daß die Dörfer lediglich in „saubere" und „unsaubere" eingeteilt worden waren. Erstere erhielten Lebensmittel aus unver-seuchten Gebieten, die anderen nicht. Als einziges Zugeständnis will die Regierung Weißrußlands in diesem Jahr die Bevölkerung mit Meßgeräten versorgen: Dann kann jeder beim Beerensammeln und Pilzesuchen den Strahlungspegel selbst kontrollieren.
Der Ausverkauf an Energieträgern wie Erdgas und Kohle für Devisen hat die Kernkraft lange Zeit als billige Alternative erscheinen lassen.
Ein teurer Irrtum.
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