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Das Ende eines philosophischen Dogmas

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Kein Gedanke hat das geistige Antlitz des späten 19. Jahrhunderts stärker geprägt als der der „Evolution“. Von der Naturwissenschaft entdeckt, ist er, von den Philosophen aufgegriffen, zu einem universalen Erklärungsprinzip erhoben worden und von hier aus langsam in das kritikärmere Volksbewußtsein abgesunken, wo er sich mit der diesem eigentümlichen Zähigkeit hält. Dennoch sind seit langem schon ernste Bedenken gegen ihn lebendig, die sich heute so sehr verdichtet haben, daß man mit Recht von einer „Krise des evolutionisti-schen Denkens“ sprechen könnte.

Was besagt zunächst der Evolutionsbegriff? Es ist ratsam, ihn vom älteren „Entwicklungsbegriff“ zu trennen, da er diesem gegenüber eine bedeutsame Modifizierung erfahren hat. Aristoteles, der Begründer jener älteren Fassung, versteht unter Entwicklung die Verwirklichung angelegter Seinsmöglichkeiten, die Aktualisierung von Potenz. Es kann also grundsätzlich nichts entstehen, was der Möglichkeit nach schon da ist, und zwar so da ist, wie es sich später eben heraus-gestaltet. Entwicklung in diesem Sinn ist also ein durch und durch teleologischer Prozeß, der sein Ziel eindeutig in sich selber trägt — So hat sie auch Herder verstanden und seinem großartigen natur-und kulturgeschichtlichen Totalgemälde zugrunde gelegt. Nicht anders denken Goethe, der Begründer der idealistischen Morphologie, und die Naturphilosophen der Romantik. In jüngster Zeit haben diese teleologische Entwicklungsauffassung vor allem die synthetische Biologie Hans Drieschs und andere und die moderne Naturmystik eines E. Dacques wieder zur Geltung gebracht.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts freilich war sie völlig in Mißkredit geraten. Der naturalistischen Grundhaltung jener Zeit gemäß sträubte man sich gegen die Annahme eines spirituellen, das heißt sinnlich nicht faßbaren Faktors hinter aller Formverwandlung und -Veränderung und suchte ihn nach Kräften zu eliminieren, beziehungsweise durch eine kausal-mechanische Erklärung zu ersetzen. Kant und Laplace haben dieser Aufgabe am Problem der Bildung unseres Sonnensystems zwar zu genügen vermocht, die lebendige Natur aber mit ihrem unerhörten Typen- und Formenreichtum — ganz zu schweigen vom Reich des Bewußtseins und Geistes — setzten allen diesen Tendenzen zunächst hartnäckigen Widerstand entgegen.

Im Jahre 1809 hatte Lamarck erstmalig den Gedanken eines stammesgeschichtlichen Zusammenhangs aller Lebensformen ausgesprochen. Er glaubte bekanntlich ihren Aufstieg aus „Anpassung“ an die sich dauernd verändernden Umweltverhältnisse erklären zu können und gelangte so zum Unbegriff der Vererbung erworbener Eigenschaften. Damit freilich war das teleologische Moment keineswegs gänzlich ausgetilgt, da ja jede Anpassung ein sinnvoll steuerndes Agens voraussetzt. Dieser unwissenschaftliche Rest erregte 50 Jahre später den Abscheu Darwins, von dem die bezeichnende Äußerung berichtet wird: „Der Himmel bewahre mich vor dem Lamarckschen Unsinn!“ Ihm gelang schließlich auch der „große Wurf“ seiner Uberwindung, indem er die Idee des freien Konkurrenzkampfes aus der liberali-stischen Wirtschaftsordnung seiner Zeit auf die „Evolution der Natur“ übertrug. Dem Zufall als schöpferischem Prinzip war damit im Herzen des Lebens selbst Heimatrecht gewährt, die unerbittliche Auslese der natürlichen Zuchtwahl sollte aus der Fülle der Zufallsvariationen eben nur die glücklichsten Treffer am Leben erhalten und zur Fortpflanzung zulassen. Damit schien die kausal-mechanische Erklärung der Stammesgeschichte alles Lebendigen bis zum Menschen hinauf geglückt.

Wenn sich also dem evolutionistischen Grundgedanken die lebendige Natur schließlich doch gebeugt hatte, so durfte man wohl hoffen, auch den Bereich des Seelischen und Geistigen mit einbeziehen zu können.

H. Spencer der, „wie kein anderer Mensch seit Dante sein Zeitalter zusammengefaßt hatte“ (W. Durant), arbeitete deshalb eine universale Evolutionsformel aus, die er, vom Bereich der Physik ausgehend, auf das breite Spektrum der Bio-, Psycho- und Soziologie, beziehungsweise Ethik anzuwenden bestrebt war. — Der Gedanke einer lückenlos kontinuierlichen Aufwärtsentwicklung fand wohl, weil er sich mit den Fortschrittstendenzen des Jahrhunderts gut vertrug, breitesten Widerhall und trat unter verschiedenen Maskierungen in den einzelnen philosophischen Strömungen der Zeit zutage: er spiegelt sich ebensosehr in Nietzsches „Willen zur Macht“, seinem ganz real gemeinten: „Nicht fort sollt ihr euch zeugen, sondern hinauf!“, seinem Übermenschen, diesem Produkt biologischer Hochzucht, wie er ihn wenigstens in seiner letzten Zeit verstand.

Er begegnet uns nicht weniger deutlich in der Lebensmetaphysik H. Bergsons, die vor dem ersten Weltkrieg eine große Popularität genoß — schon der Name seines Hauptwerkes „Evolution creatrice“ verrät diesen Zusammenhang; er floß auch in die Erkenntnistheorie ein und erweidite hier den Apriorismus der nachkantischen Philosophie, wie deutlich in dem positivistischen, hauptsächlich in England und Amerika verbreiteten Strömungen des Humanismus (F. C. Schiller), Pragmatismus (W. James) und Instrumentalismus (J. D e-w e y) sichtbar wird, welche den Werkzeugcharakter unseres Denkens im Rahmen der Daseinsbewältigung hervorheben und zu einem modernen Relativismus (die Wahrheit — eine Funktion des biologisch Nützlichen) gelangen. Auch die Freudsche Sublimationstheorie muß als Spielart dieses Gedankens hier genannt werden, wenngleich sie die höheren Bewußtseinsformen nicht eigentlich als Anpassungs-, sondern als eine Art „Destillationsprodukte“ verdrängter Triebenergie verstehen will.

Damit aber sind wir beim entscheidenden Punkt angelangt: von besonderer Bedeutung . nämlich für die Bewährung des evolutionistisdien Denkansatzes war seit jeher das Problem des Menschen. Wie schon die Eigengesetzlichkeit des Lebens, so setzte ihm die vom christlichen Dogma garantierte und in der humanistischen Tradition verankerte menschliche Sonderstellung energischen Widerstand entgegen. — Deshalb hatte Darwin auch noch gezögert, in seine „Entstehung der Arten“ (1859) den Mensdien mit einzube-ziehcn und Huxley und Haeckel den Vortritt gelassen. Diese setzten nun alle Kräfte daran, den Wesensunterschied zwischen Mensch und Tier zu nivellieren; und die Paläontologie sdiien ihnen zunächst (heute denkt man wohl etwas anders darüber), auch recht zu geben; ließen sich doch in kurzer Zeit fossile Reste von Übergangsformen zwischen Affen und Menschen, vor allem der „P i t h e c a n-thropus erectus“ aufweisen, der denn auch mit großer Emphase als das gesuchte „missing link“ gefeiert wurde.

Die eigentliche crux der Abstammungslehre aber war und blieb natürlich der menschliche Geist L i n n i hatte diesen unüberholbaren Vorrang des Menschen vor dem Tier noch vor Augen gehabt, da er ihn als „homo sapiens“ — aus rein systemati-sdien Gründen — an die Spitze der Tierreihe stellte. Den Evolutionisten aber war er der ewige Stein des Anstoßes, bis ihnen mit der „H o m o - f a b e r - T h e o r i e“ ein Manöver der Versdileierung gelang, das sich erst heute wieder als solches zu erkennen gibt. Sie setzten nämlich dort an, wo das Tier den Menschen um Haaresbreite nahezukommen schien, bei den Leistungen der praktischen Intelligenz. Wie von der ersten Werkzeug herstellung des Menschen bis zur virtuosen Beherrschung der Tedinik etwa unseres Atomzeitalters ein kontinuierlidier Weg des Fortschritts emporzuführen schien, so wollte man in den Intelligenzleistungen der Anthropoiden die ersten Ansätze eben jenes Werkzeuggebrauchs sehen, mit dessen völligem Gewinn man die Menschheitsstufe erreicht glaubte. Ebenso wie auf morphologischem Gebiet hielt man sich hier für durchaus berechtigt, den schmalen Riß der Intelligenzstufen zwischen Tier und Mensch durch ein Integral kontinuierlicher Entwicklungsschritte auszufüllen. Oder in der Spradie der Umweltsforschung ausgedrückt: die „technische Welt“ des Mensdien schien im Grunde nichts anderes zu sein als eben eine jener tierischen Umwelten, nur daß der Mensch nicht in sie hineingeboren wurde, sondern sich unter dem Gebot der Daseinsbewältigung erst selber hineinspezialisieren mußte; die übrigen geistigen Leistungen, wie Kunst, Wissenschaft, Moral, Religion, tat man einfach als Wudierungsprodukte am Stamm der praktischen Intelligenz des Mensdien ab, sofern man ihnen nicht wenigstens einen Schimmer biologischer Zweckmäßigkeit abgewinnen konnte.

In konsequenter Weise hat nun diesen zuletzt geäußerten Gedanken vor einigen Jahren A. Gehlen in seiner Entlastungs-theorie des Menschen durchgeführt. Er sudit zu zeigen, wie dieser, da ihm von Haus aus jede Umweltsspezialisiertheit fehlt, als weltoffenes Wesen der Reizüberflutung des Augenblicks oricnrerungslos preisgegeben ist und ihr längst erlegen wäre, wenn er sich nicht (dank einer besonderen geistigen Ausstattung) entlasten könnte. Indem er sich nämlich sein zunächst verwirrendes LJmfeld fortsdireitend symbolisch durchgliedert und dabei den existentiellen Schwerpunkt in immer höhere Symbolebencn zu erheben vermag, zieht er alles geistige Leben, wie Sprache, Denken, Weltanschauung und Glauben in die eine zentrale Aufgabe der Entlastung himin: seiner brüchigen Daseinsstruktur iene Sicherheit und Geborgenheit zu geben, die ihr die Natur versagt hat, das heißt aber: die Autonomie des Geistes ist damit endgültig dem biologischen Monismus zum Opfer gebracht. Das Äußerste, was das evolutionistische Denken zu leisten versprach, scheint hier erreicht. Gehlen hat hier Darwin in moderner Weise zu Ende gedacht. Das stolze Gebäude eines lückenlos geschlossenen Natur- und Lebenszusammenhanges scheint glücklich unter Dach und Fach gebracht. Aber der erste Glanz blendet: • einem genauen Beobachter kann keineswegs entgehen, um den Preis welcher Unterlassungssünde der Evolutionismus groß geworden ist. Was er näml:ch mit Mühe versdileiert hat, beginnt in seiner Verhüllung immer deutlicher spürbar zu werden: das „t e 1 o s“, die schöpferische Potenz hinter aller Erscheinung.

Schon der erste Einwand, der seit Eduard Hartmann immer wieder mit gleicher Schärfe erhoben wird, trifft die evolutionistische Lehre an ihrem wundesten Punkt. Darwin setzt voraus, daß eine entsprechend breitstreuende Erbvariation schließlich zu Treffern führen müßte, die in einem langen Prozeß schrittweiser Auslese auch den Übergang von niederen zu höheren Organisationsformen begreiflich machen könnten. Zwar hat dieser Gedanke — nach einer Zeit völliger Achtung durch Hans Driesch und andere — in der modernen Erb- und Mutationsforschung für die Mikro-evolution wieder eine bescheidene Rechtfertigung erfahren, soviel aber ist von seiner Kritik aufrechterhalten worden, daß er keineswegs zum Verständnis der Makro-evolution ausreicht. ■ Unter dem Zwang der Tatsachen fühlt man sich gegenwärtig viel mehr zur Annahme einer sprunghaften Umkonstruktion der Arttypen gedrängt (so E. Dacque), womit dem Evolutionismus zwei entscheidende Breschen gesdilagen ind: erstens ist die Vorstellung ein-?s E n t-wicklungskontinuums - dadurch unhaltbar geworden; ähnlich, wie in der Physik, scheint sich also auch in der Biologie eine Art „Quantentheorie“ langsam durchzusetzen. Zweitens aber setzt jede sprunghafte Umkonstruktion eine kongruierende Potenz voraus, also eben das, Wdrauf die mechanistische Erklärung verzichten zu dürfen glaubte.

Ein noch entscheidendsrer Einwand muß von seiten der philosophischen Anthropologie erhoben werden: es ist nun emmal nicht anders, die geistige Potenz des Menschen läßt sich nicht bis zur sogenannten rierischen Intelligenz herabnivellieren. Treffend bemerkt deshalb F. B r u n n e r, daß wenis Geist haben noch immer unendlich viel mehr sei als keinen Geist haben, wie das Tier, und _ der witzige Th. Litt äußert gelegentlich sein Erstaunen, mit wieviel Geist heute dem Menschen sein Geist hinwegdisputiert oder zumindest nach Kräften verleidet wird.

Bei Lichte besehen aber ist es ein gewaltiger Zirkel, der diesem, dialektischen Kunst-, stück der Geistverschleierung zugrunde liegt. Der Evolutionismus setzt nämlich gerade das, was er erklären will, schon selber voraus. Dafür einige überzeugende Beispiele: was anderes ist denn etwa der sogenannte Triebverdränger Freuds, der den Sublimationsp.-ozeß veranlaßt, als der Geist selber? — Wenn sich der Mensch unter dem Zwang der Daseinsbewältigung das Instrument seines Verstindes selber erwirbt, oder wenn er sich aus seiner biologi-sdien Mangelsituation in ein Geflecht symbolisierender Funktionen hinein entlastet, so vermag er dies schließlich nur dank einer zielstrebigen geistigen Potenz, die anzupassen und Mängel auszugleichen imstande ist.

Dies alles wird noch deutlicher, wenn man die mensdiliche Daseinsstruktur einmal von ihrer positiven Seite beleuchtet. Der Schritt von der Tier- zur Menschstufe ist ontologisdi gesehen nidits Geringeres als die Öffnung der tierischen „Umwelt“ zur mensdilichcr „Welt“. Damit tritt der Mensch aus dem Bannkreis vitaler Nötigung und steigt zur Möglichkeit der Uberschau und Selbstorientierung auf. Dieser gewaltige Sprung ist durch nichts treffender gekennzeichnet als durch den Erwerb der Vollsprache, die das Tier, man drehe es wie man wolle, eben nicht besitzt. Es spricht nicht, weil es nichts zu sagen hat,wußte schon der heilige Augustin. Wie jeder Versuch einer historisdien Erklärung der menschlichen Sprache aus tierischen Ansätzen bisher fehlgesdilagen ist, so wird es — der Teil steht hier für das Ganze — auch niemals möglich sein, den Menschen selber entwicklungsgeschichtlich vom Tier her abzuleiten, ohne in alle jene Grundirrtümer zu fallen, die wir hier sichtbar zu machen bestrebt waren.

Stehen wir heute also schon am „Sterbelager des Evolutionismus“? Eine solche Prognose wäre zweifellos voreilig. Gewiß, die Philosophie ist bereits allenthalben von ihm abgerückt, die Fachwissenschaften dagegen halten an dieser liebgewordenen Denkweise um so fester, als sie ihr viele positive Einsichten zu danken haben. Das soll hier keineswegs bestritten werden. Im beschränkten Rahmen praktischer Bewährung hat jedes heuristische Prinzip seine Gültigkeit. Als universales philosophisdies Dogma aber ist Evolutionismus heute ernstlich nietjt mehr aufrechtzuerhalten.

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