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Ein Forscherleben

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Das Jahr 1959 ist in doppelter Hinsicht ein Darwin-Jubiläum: denn nicht nur die 150. Wiederkehr seines Geburtstages am 12. Februar 1809, sondern auch das Erscheinen seines Hauptwerkes „Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl” am 24. November 1859, lenkt die Aufmerksamkeit weitester Kreise auf diesen Kopernikus der modernen Biologie. Darwin ist freilich hinter dem Darwinismus ganz und gar zurückgetreten, so sehr, daß der Durchschnittsgebildete kaum etwas Genaueres über sein Privatleben weiß. Das ist sicher sehr schade. Die vorliegende Biographie ist der erste größere deutsche Beitrag zum Darwin-Jubiläum. Man darf sie begrüßen als eine sehr sorgfältig gearbeitete, sachlich nüchterne Darstellung eines fleißigen und erfolgreichen Forscherlebens.

Das Leben des jungen Theologen Charles Darwin, der sich von allem Anfang an viel mehr für biologische und geologische Fragen interessierte als für theologische Probleme, wurde durch die große Erdumseglung mit der „Beagle” von 1831 bis 1836 ganz entscheidend geprägt. In dieser romantischen Periode, wie von Wyss diesen Lebensabschnitt kurz charakterisiert, empfing er auf seinen Expeditionen an der Ostküste wqn Südamerika, in Feuerland und auf dem Galapagos-Archipel jene tiefen Eindrücke, die für sein späteres Lebenswerk während der rationalistischen Periode bestimmend sein sollten. Aber erst mehr als 20 Jahre später überraschte er die Welt mit seiner aufsehenerregenden Idee von der „Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl”. Alle übrigen Werke der nachfolgenden Jahre dienten dann nur noch der Ausgestaltung und dem Aufweis der Allge- meingeltung des Selektionsprinzips auch für den Menschen und die Ausdrucksbewegungen bei Mensch und Tier. Von Wyss schildert nicht nur das äußerlich so ungestörte, glückliche Familienleben Darwins — er war Vater von zehn Kindern, denen er in zärtlicher Liebe zugetan war —, sondern referiert auch, freilich in zum Teil etwas trockener und weitschweifiger Weise den Gedankengang der Hauptwerke. Soweit ist die vorliegende Biographie gewiß zugleich auch eine zuverlässige Einführung’ in die Gedankenwelt Darwins. Schmerzlich vermißt man jedoch die gebührende Berücksichtigung der damals allgemein herrschenden wirtschaftlichen, kulturellen und philosophischen Zeitsituation und die Darstellung der ungemein heftigen Auseinandersetzungen, die das Erscheinen der „Entstehung der Arten . .ausgelöst hatte. Ebenso erwartete man wohl noch eine, wenn auch nur kurze Beurteilung der Selektion vom derzeitigen Stand der Gegenwartsforschung.

Freilich, die Akten über den Darwinismus sind noch lange nicht geschlossen. Es ist sicher richti|, daß ein Großteil der Biologen darwinistischen oder vielmehr neodarwinistischen Gedankengängen in der Frage der Evolutionsforschung verpflichtet ist. Aber ebensosehr stimmt es, daß es zur Zeit auch in fachbiologischen Kreisen nicht an Kritikern fehlt, die die rein mechanistische Erklärung der Evolution, an deren Faktizität sie besonders auf Grund der palä- ontologischen Zeugnisse durchaus nicht zweifeln, mit Hilfe des darwinistischen Selektionsprinzips ablehnen oder doch in Frage stellen. Der Darwinismus ist entgegen allen Behauptungen noch längst nicht überwunden. Enthält er ja doch über seinen begrenzten, rein wissenschaftlichen Wahrheitsgehalt, zum Beispiel in der Frage der Variabilität, hinaus zugleich auch eine weltanschauliche Stellungnahme. Er übt gerade auf diejenigen, die den Positivismus als heuristisches, naturwissenschaftliches Forschungsprinzip in unzulässiger Grenzüberschreitung zu einem philosophischen, metaphysischen Axiom verabsolutieren, eine besondere Anziehungskraft aus. Diese Tatsache sollte eben auch bei der Beurteilung der Schweren, sehr unerfreulichen Auseinandersetzungen mit Darwin nach dem Erscheinen der „Entstehung der Arten . . .” berücksichtigt werden. Darwin ver- vertrat ja. wie auch mit aller Deutlichkeit aus seiner Korrespondenz mit dem Botaniker Asa Gray hervorgeht, mit allem Nachdruck die Meinung, daß der Gedanke einer geplanten Ordnung abzulehnen sei und dieser vielmehr durch die Annahme des Selektionsprinzips als widerlegt betrachtet werden müsse. Wohl nicht zuletzt auch mit Rücksicht darauf hat ihm sein alter geologischer Lehrmeister Sedgwick einst vorgehalten: „Viele Ihrer weitreichenden Schlußfolgerungen beruhen auf Voraussetzungen, die weder bewiesen noch widerlegt werden können. Weshalb haben Sie sie denn in einer Sprache und Ordnung philosophischer Induktion ausgedrückt . . .?”

Sehr aufschlußreich sind auch die kurzen Andeutungen des Biographen über Darwins Verhältnis zur Kunst und Religion. Nicht ohne Bedauern machte dieser einmal die Feststellung, daß ihm der einst in der Jugend so lebhafte Sinn für Poesie und Kunst ganz und gar verlorengegangen sei. Selbst Shakespeares Dramen, für die er einst so begeistert war, seien ihm unerträglich geworden. Er empfindet diese Interesselosigkeit aber durchaus als einen großen Verlust möglichen Glückes und schreibt daher: „Wenn ich mein Leben aufs neue durchleben sollte, so würde ich mir eine Regel daraus machen, jede Woche einmal mich mit Poesie zu beschäftigen oder Musik anzuhören. Vielleicht würden dann jene unter den jetzigen Umständen abgestorbenen Teile meines Gehirns durch Uebung am Leben bleiben.”

Nicht anders gestalteten sich Darwins Beziehungen zur Religion: Während er sich zu der Zeit, als er. die „Entstehung der Arten …” schrieb, noch als einen Theisten bezeichnete, der überzeugt war von der Existenz einer ersten Ursache, „die einem klaren Geiste gleicht, der in gewissem Sinn dem Unsrigen entspricht”, so ist diese Ueberzeugung seit jenen Tagen unter manchen Schwankungen immer schwächer geworden. „Denn es erhebt sich der Zweifel, wieso dem Geiste des Menschen zu vertrauen sei, der, wie ich bestimmt annehme, sich von einer so geringen Stufe seelischen Lebens herleitet, wie es die niederen Tiere besitzen, wenn er so weitgehende Schlußfolgerungen zieht”. Freilich ist nicht zu Unrecht in diesem Zusammenhang vermerkt worden, daß, wer dem menschlichen Geist so wenig zutraut, konsequenterweise auch an seinen eigenen Schlußfolgerungen zweifeln müßte. In anderem Zusammenhang sagte er einmal: „Nichts ist eigentümlicher als die allmähliche Ausbreitung der Skepsis und des Rationalismus in der zweiten Hälfte meines Lebens. Es ist, als ob ich farbenblind geworden wäre. Sehr langsam überkam mich der Unglaube, der zuletzt vollständig war. Dies ging so langsam vor sich, daß es schmerzlos war, und ich zweifelte keinen Augenblick, daß meine Schlußfolgerungen richtig waren.” Mit sehr harten Worten äußert er sich auch hinsichtlich der überlieferten Religion des Christentums, wenn freilich auch diese Stellen über besonderen Wunsch seiner Frau zunächst nicht veröffentlicht wurden.

Darwins bleibendes Verdienst besteht sicherlich darin, erstmals mit Hilfe des Selektionsprinzips eine kausal-analytische Erklärung der Evolution versucht zu haben. Daß die von ihm entworfene Theorie zur vollständigen Erklärung einer so komplexen Gegebenheit, wie die Evolution sie darstellt, noch unzureichend ist, darf ja weiter nicht verwundern und schmälert in keiner Weise die Größe seines Versuches. Oswald.

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