Für heute hält Darwins Weltbild eine Botschaft bereit: die der Sympathie mit der Schöpfung, meint FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher.
Eben hatte man noch Christi Geburt gefeiert, jetzt hatte Englands führende Schicht die profane Welt in Gestalt der Morgenausgabe der "Times" auf dem Frühstückstisch liegen. Auf Seite acht, neben den politischen Auslandsnachrichten, stand eine ungewöhnlich lange, außerordentlich lobende Rezension eines soeben erschienenen Buches. Die Überschrift lautete: "Darwin über die Entstehung der Arten", und im ersten Absatz hieß es: "Wir müssen damit rechnen, mit neuen Ansichten über die Natur und die Beziehungen ihrer Bewohner bekanntgemacht zu werden, weil die Wissenschaft neues Material für neue allgemeine Theorien erhalten hat."
Wenn die Welt im Jahr 2009 des hundertfünfzigsten Jahrestags der Erstveröffentlichung der "Entstehung der Arten" und des zweihundertsten Geburtstags Darwins gedenkt, wird viel über die Rezeptionsgeschichte dieser Theorie geredet werden. Sie, die zunächst eine beschreibende Theorie war, wurde fatal, als sie Anwendung wurde: So hat sie bekanntlich als Rechtfertigungsideologie nationalsozialistischer Rassenpolitik ebenso gedient wie als Begründungskern moderner sozialdarwinistischer Theorien. Aber auch jenseits davon hat sie das früheren Generationen völlig fremde Bewusstsein dafür geweckt, schnell selbst zu machen, wozu die Natur eine halbe Ewigkeit braucht: Sie, die den Menschen die unendlichen Zeiträume vor Augen führte, die die Natur benötigt, um die Lebewesen an veränderte Umwelten anzupassen, hat nicht mit der Ungeduld der Menschen gerechnet.
Missbrauch einer Theorie
Genetische Veränderungen können über Leben und Tod, über Wohl und Wehe ganzer Arten entscheiden. Seit Darwin lernt jedes Kind, dass die Triebwerke der Evolution zufällige Mutation und zielgerichtete Selektion sind. Sein Werk selbst aber ist paradoxerweise in den Händen der Nachgeborenen zu einem solchen Produkt einer Zuchtwahl geworden. Ihr Ziel war, wie bei jeder Züchtung, Darwins genialem Fund selbst ein Ziel zu geben: dass Evolution ein Prozess ist, der zur allmählichen Vervollkommnung der Arten, also der Gesellschaft, also des Menschen führe, ist einer der folgenreichsten Gedanken rassistischer, aber auch allgemeiner kultureller und politischer Evolutionstheorien und hat mit Darwin nichts zu tun.
Zuweilen werden kleinere kulturelle Beben dadurch ausgelöst, dass einflussreiche Werke von ihrer Rezeptionsschicht befreit und wieder so gelesen werden wie am ersten Tag. Wenn nicht alle Zeichen trügen, dann hat dieser Prozess seit Janet Brownes großer Biographie bei Darwin eingesetzt. Der Darwin, der gegen seine Anwender verteidigt werden kann, ist nicht der Theoretiker des Lebenskampfes, des Rassismus und der Naturbeherrschung. Im Gegenteil: Es ist ein Denker, der mit fast beispielloser Behutsamkeit sich der Natur und ihren Geschöpfen zuwendet, um Verschiedenheiten, Unterschiede und Differenzen zu verstehen. Der Mann, der die Regenwürmer zu den wahren Herren der Weltgeschichte machte und sich Hornissennester schicken ließ, um die erstaunlichen Symmetrien der Natur zu verstehen, hat einen Zusammenhang zwischen Natur und Gesellschaft hergestellt, der überhaupt erst das Bewusstsein dafür weckt, dass ihr Schicksal ein gemeinsames ist.
Revisionen sind große Abräum- und Entrümpelungsaktionen. Sie sind im vorliegenden Fall gar nicht nötig. Es genügt, auf die Urtexte zurückzugreifen. Es genügt, nach Lektüre auch nur der Briefe dieses gewaltigen Briefschreibers festzustellen, dass Darwins Weltbild im zweihundertsten Jahr seiner Geburt eine neue Botschaft bereithält: die der Sympathie mit der Schöpfung.
"Frankfurter Allgemeine", 13./14. Dezember 2008
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