6985287-1986_24_10.jpg
Digital In Arbeit

Wer bis ins Mark getroffen wurde

19451960198020002020

Knochenmarktransplantationen, wie sie der amerikanische Arzt Robert Gale jüngst an den Opfern der Atomkatastrophe von Tschernobyl durchführte, gibt es erst seit 1969.

19451960198020002020

Knochenmarktransplantationen, wie sie der amerikanische Arzt Robert Gale jüngst an den Opfern der Atomkatastrophe von Tschernobyl durchführte, gibt es erst seit 1969.

Werbung
Werbung
Werbung

Uber die Atomkatastrophe von Tschernobyl und ihre Folgen wird viel diskutiert und geschrieben. Besonderes Aufsehen erregten die Knochenmarktransplantationen, die von ausländischen Spezialisten an den Opfern durchgeführt wurden. Wieweit kann diese Therapie bei Strahlenschäden wirksam Hilfe bringen? Können die so behandelten Menschen überleben?

Knochenmark reagiert neben den Keimdrüsen auf Strahleneinwirkung äußerst empfindlich. Es genügt eine Gesamtdosis von 300— 600 rad (= radiation absorbed do-

se, physikalische Meßeinheit für die Strahlendosis), um die lebenswichtige Blutbildungsstätte irreversibel zu zerstören.

Für eine erfolgreiche Transplantation nach einem Strahlenunfall müssen verschiedene Voraussetzungen gegeben sein. Die Gesamtstrahlendosis muß sich in Grenzen gehalten haben (maximal 500 rad) — bei höheren Werten werden auch andere Organe in Mitleidenschaft gezogen. Hauptproblem dabei: Die Meßgeräte, die die Arbeiter in einem Strahlenbetrieb tragen, sind bei einer Katastrophe, wie sie in Tschernobyl geschah, sicher überfordert. Im nachhinein läßt sich praktisch nicht feststellen, welche Strahlendosis ein Opfer abbekommen hat. Abzuleiten ist dies nur an der Schnelligkeit, mit der die Lymphozyten (ein Teil der weißen Blutkörperchen) im Blut absinken; sind nach zwei bis drei Tagen noch Lymphozyten vorhanden, erscheint eine Transplantation sinnvoll.

Schon aus diesem Grund ist es ungeheuer schwierig, die Strahlenopfer zu erkennen, für die eine Transplantation eventuell lebensrettend sein könnte. Dann erst beginnt die Suche nach einem geeigneten Spender - innerhalb des verstrahlten Gebietes ein wohl aussichtsloses Unterfangen. Er müßte dieselben immungene-

„Die gefürchtete .Trans-plantat-gegen-Wirt-Reak-tion' ist meist tödlich.“

tischen Eigenschaften, die nur an den weißen Blutkörperchen getestet werden können, mitbringen. Der Idealfall ist ein eineüger Zwilling — aber wer kann schon damit aufwarten? Etwa ein Drittel der Patienten verfügt über einen Spender, der mit ihm diese gleichen „HLA-Antigene“ teilt — dies sind praktisch nur Geschwister.

Im „Notfall“ zieht man auch Eltern oder Kinder als Spender heran; sie sind mit dem Empfänger „nur“ zur Hälfte gewebegleich und bringen daher schlechte Voraussetzungen mit: Die gefürchtete „Transplantat-gegen-Wirt-Reaktion“, wie sie im Normalfall zwischen 30 und 50 Prozent auftritt, erscheint hier in einem höheren Ausmaß und ist meist tödlich.

Aus den bisherigen Erfahrungen mit Knochenmarktransplantationen muß man wohl annehmen, daß die Opfer von Tschernobyl unter diesen ungünstigen Bedingungen nur geringe Uberlebenschancen haben werden.

Dazu meint der Wiener Experte für Knochenmarktransplantationen, Wolf gang Hinterberger, Do-

zent an der Ersten Medizinischen Universitätsklinik: „Heilungschancen wären dann gegeben, wenn man bereits vor dem Unfall nach einem passenden Spender im Familienkreis gesucht hätte, der dann herangezogen hätte werden können. Während des Unfalles hätte er sich allerdings außerhalb des verstrahlten Gebietes aufhalten müssen.“

Wie komplex das Thema Knochenmarktransplantationen ist, welche ungeheuren Probleme damit verbunden sind und wieviel Forschungsarbeit noch nötig sein wird, hat uns dieses atomare Unglück eindrucksvoll gezeigt.

Seit den ersten derartigen Transplantationen im Jahre 1969 ist dieses Gebiet der Medizin entscheidend weiterentwickelt worden Vor allem als Therapie von schweren Erkrankungen des blutbildenden Systems wie Leukämien oder Knochenmarksversagen (aplastische Anämie) hat sich diese Methode bestens bewährt.

Weltweit wurden bisher an die 5000 Knochenmarktransplanta-

tionen durchgeführt, davon 75 in Österreich. Je nach dem Stadium der Krankheit, dem Alter des Empfängers und des Spenders liegen die Dauerheilungschancen heute zwischen 30 und 85 Prozent - und dies oft bei Patienten, deren Lebenserwartung nur noch wenige Monate beträgt.

Wie wird nun eine derartige Transplantation durchgeführt? Hinterberger: „Es handelt sich dabei nicht um eine .Operation', wie sie von Chirurgen durchge-

führt wird. Das Knochenmark wird dem Spender mit Punktionsnadeln aus dem Beckenknochen während einer Vollnarkose abgesaugt und dem Empfänger wie eine Bluttransfusion in die Vene infundiert. Die Blutstammzellen des Spenders siedeln sich danach von selbst in den Knochenmarksräumen des Empfängers an. Nach etwa zehn Tagen bilden sich im Blut des Patienten Zellen, die vom Knochenmark des Spenders stammen.“

Uberträgt man genügend von dieser lebensrettenden Substanz (etwa 15 Milliliter pro Kilogramm Körpergewicht des Patienten) genügt eine einzige Transplantation, damit der Patient ein Leben lang Blutzellen aus dem Knochenmark seines Spenders erhält.

Knochenmark läßt sich freilich nicht so einfach wie Blut spenden.

Das (geringe) Risiko einer ein-bis vierstündigen Vollnarkose muß man bereit sein, auf sich zu nehmen. Aus diesem Grund ist es nicht leicht, „Fremdspender“ zu motivieren.

Nicht nur die Transplantation selbst, sondern auch die intensive Vor- und Nachbehandlung des Transplantatempfängers erfordert ein erfahrenes Team von Ärzten. Besonders nach der Uber-tragung müssen einige Komplikationen bewältigt werden - diese reichen von Infektionen durch Bakterien oder Viren bis zur „umgekehrten Abstoßungsreaktion“ (dabei wehrt sich das mit-trans-plantierte fremde Abwehrsystem gegen die neue Umgebung und stößt sie im ungünstigsten Fall ab). Ungefähr 40 Tage verbringt der Patient daher in einem sterilen Raum, wo er rund um die Uhr betreut wird.

Eine besondere Variante dieser Behandlungsmethode ist die au-tologe Knochenmarktransplantation: sie wird erfolgreich bei einigen Krebsarten eingesetzt. Einzige Bedingung: das Knochenmark muß tumorzellfrei sein. Bevor man den Patienten %iner hohen Ganzkörperstrahlung von 1000 rad aussetzt, entnimmt man ihm das eigene Knochenmark und friert es bei minus 196 Grad Celsius tief. Danach wird es dem bestrahlten Patienten wieder infundiert. Dadurch kann man die zu applizierende Strahlendosis beträchtlich erhöhen und den Tumor effizienter behandeln.

Warum kann man auf diese Art nicht Spenderknochenmark (wie Blutkonserven) einfrieren? „Dazu müßte man in einer Blutbank

in einem komplizierten Verfahren 100.000 freiwillige Spenderkandidaten untersuchen, damit bei einem Patienten eine 70prozentige Chance besteht, daß einer davon geeignet ist“ — so erklärt Wolfgang Hinterberger die ungeheure Vielfalt des Gewebsantigen-Sy-stems. Unfallopfer scheiden daher ebenfalls aus - abgesehen davon, daß in einem toten Körper Knochenmark sehr rasch abstirbt.

Dennoch bahnt sich ein neuer Weg an: mit der sogenannten „Leukapharese“ könnte es bald gelingen, die kostbaren Blutstammzellen direkt aus dem Blut zu gewinnen.

Wie wir durch Tschernobyl gesehen haben, sind auch wir vor einer Strahlenkatastrophe nicht gefeit. Eine Chance, zu überleben, haben wir nur dann, wenn wir uns beizeiten in einen Atombunker verkriechen oder rechtzeitig einen passenden Knochenmarkspender ausfindig machen - oder unsere eigene „Knochenmarksration“ eingefroren parat haben.

Zumindest eine Lehre sollten wir daraus ziehen: Nicht nur aus medizinischen, sondern auch aus moralischen Gründen sollte Knochenmark von Arbeitern in strah-lungsgefährdeten Betrieben geschützt tiefgefroren für den Eventualfall bereitliegen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung