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Ausflug in die Vergangenheit

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Eine Erinnerung aus meiner Knabenzeit darf ich meinen Ausführungen vorausschicken. Diese Erinnerung ist für meine spätere Entwicklung von Bedeutung. Ich hatte einen Onkel. Er war Arzt, ein eleganter, hübscher Mann. Er imponierte mir besonders, so daß ich schon als Knabe fest entschlossen war, auch Arzt zu werden.

Schon im Gymnasium interessierte mich Naturwissenschaft und ganz besonders Physik. Nach der Matura ging der Traum meiner Kindheit in Erfüllung. Ich wählte das Studium der Medizin. So wie in der Kindheit mein Onkel, waren in meinem späteren Leben die großen Aerzte, die in Wien lehrten, meine Vorbilder. Ich hatte das Glück, bei großen Aerzten der Wiener medizinischen Schule um die Jahrhundertwende lernen zu dürfen. Die Professoren der internen Medizin waren auch wieder meine Vorbilder. Es war N o t h n a g e 1, ein Norddeutscher, der in Jena die Lehrkanzel für interne Medizin innehatte und auf Betreiben B i 11 r o t h s nach Wien berufen wurde.

Als ich als Mediziner die Vorlesungen Nothnagels hörte, faßte ich alsogleich den festen Entschluß, an seiner Klinik arbeiten zu dürfen und sein Assistent zu werden. Diese hochtrabenden Pläne gingen auch tatsächlich in Erfüllung. Nothnagel war ständig mein Vorbild. Ich ließ nicht locker, und all mein Tun und Lassen war auf dieses eine Ziel eingestellt. Schon als Mediziner in den letzten drei Semestern meiner Studien durfte ich in die Klinik Nothnagel als Hospitant eintreten. Ich arbeitete von früh bis spät abends im Krankensaal; verfaßte möglichst genaue Krankengeschichten und führte die von den Assistenten der Klinik angeordneten Behandlungsmethoden durch. Ich konnte da viel lernen. Nothnagel kam fast tägöich nach der Vorlesung auf die Krankenzimmer, kontrollierte streng die Krankengeschichten. Da gab es Belobung, aber nicht selten auch scharfen Tadel. Dadurch war ein inniger Kontakt zwischen dem klinischen Vorstand Nothnagel und den jungen Hilfsärzten gewährleistet. Nothnagel kannte seine Hilfsärzte und konnte so die Wahl treffen, welche Aerzte für eine Assistentenstelle in Frage kommen könnten. So war ich überglücklich, als er mich schon einige Monate nach meiner Promotion veranlaßte, in theoretischen Fächern, vor allem in der pathologischen Anatomie, der Lehre von den Erkrankungen der inneren Organe, gründlich auszubilden. Und so ging ich nach Absolvierung meiner militärischen Dienstpflicht als Assistenzarzt im Garnisonsspital Nr. 1 in Wien nach Frankfurt am Main, wo damals zwei berühmte Gelehrte, Weigert und Ehrlich, wirkten, forschten und lehrten. Von Ehrlich stammen die wichtigsten Erkenntnisse auf dem Gebiete der Serologie (des Verhaltens des Blutserums bei Gesunden und Kranken). Diesen beiden Männern verdankt nicht nur die medizinische Wissenschaft, sondern die gesamte Welt die Grundlagen der modernen Heilkunde.

Um die Jahrhundertwende arbeitete am Pathologischen Institut in Wien der berühmte Forscher Carl Landsteiner. Hier veröffentlichte er seine grundlegenden Arbeiten über die Blutgruppen beim Menschen. Nur dadurch ist es möglich, daß die oft lebensrettende Bluttransfusion (Blutübertragung) durchgeführt werden kann. Ich arbeitete zwei Jahre an diesem Institut, bis ich im Jahre 1904 Assistent bei Nothnagel wurde. Dieser ganz große Kliniker und Lehrer starb leider schon am 6. Juli 1905 bei einem schweren Anfall von Angina pectoris. Sein Nachfolger war der bekannte Fachmann für Zuckerkrankheit und Diätetik C. von Noor-d e n. Er kam aus Frankfurt am Main, wo er Primarius am Städtischen Krankenhaus gewesen war.

In dieser Zeit lernte ich meine Frau kennen. Wir heirateten im Jahre 1912. Meine Frau war meinen wissenschaftlichen Bestrebungen nie hinderlich im Wege. Sie tat alles, um meine akademische Laufbahn als Dozent, Primarius und später Ordinarius und klinischer Vorstand möglichst reibungslos zu gestalten. Sie ist ein schönes Vorbild für alle Arztgattinnen.

Die Primariate in den Wiener Spitälern waren so gut wie ausschließlich in den Händen von Fachärzten, die vorher klinische Assistenten waren. Dadurch war das hohe wissenschaftliche Niveau in den Wiener Krankenabteilungen gewährleistet.

Wenn es naturgemäß nicht möglich ist, daß jeder Primararzt später eine Universitätsklinik bekam, so waren doch die Vorstände der Abteilungen Professoren mit anerkanntem wissenschaftlichem Ruf. Sie beteiligten sich auch am Unterricht. Dies war für die Ausbildung der Studenten und Aerzte von Bedeutung. Neben dem Besuch der Vorlesungen arbeiteten die Studenten auch praktisch am Krankenbett in verschiedenen Abteilungen. Diese wichtige Einrichtung besteht zum Großteil heute noch.

Schon in meiner Assistentenzeit war es üblich, daß man sich ein wenig in der Welt umsah. In Hamburg zum Beispiel konnte man am Institut für Tropenkrankheiten viel sehen und lernen. Dort wurden praktische Kurse abgehalten, wo die Tropenärzte in den deutschen Kolonien die Grundlage für ihre Tätigkeit erhielten. Dem Institut war ein Spital angegliedert, wo man Krankheiten aller Art sehen konnte. Ich denke noch gerne zurück an meinen Aufenthalt in Hamburg. Hier lernte ich auch, wie man einen Kurs über Blutuntersuchungen abhalten soll. Nach meiner Rückkehr nach Wien richtete ich Kurse über Blutuntersuchungen nach dem Hamburger Muster ein. Viele Jahre später besuchte ich in München die Klinik des berühmten Internisten Friedrich von Müller, wo ich seine mustergültigen Vorlesungen hören konnte.

An dieser Stelle sind noch Namen zu nennen, die für die Wiener Schule von besonderer Bedeutung waren. Landsteiner habe ich schon erwähnt. Neben Nothnagel wirkten um die Jahrhundertwende E. von N e u s s e r und L. von Schrötter als Vorstände der II. und III. Internen Klinik. Neusser war ein genialer Diagnostiker, daneben auch ein begabter Musiker und Pianist, der Chopin besonders schön spielte. Das lag ihm nahe, da er zum Teil polnischer Abstammung war. Schrötter verkörperte die Tradition Skodas. Von den Nachfolgern sind noch Ortner und Chwostek zu nennen. Ersterer war Vermittler der Tradition Neussers, Chwostek war der originelle „Blick“-Dia-gnostiker, der ohne die Hilfsmittel der modernen Apparaturen verblüffend richtig Diagnosen stellte. Daneben nenne ich als berühmte Vertreter der Chirurgie Eiseisberg, Gusse n-b a u e r und H o c h e n e g g, die die Tradition Billroths weiterführten. Auch der Pionier der Röntgenkunde, H o 1 z k n e c h t, sei hier genannt.

Eine Tradition der Wiener Schule ist auch heute noch lebendig. Es ist dies die praktische Betätigung am Krankenbett sowohl in der Studienzeit wie auch im Spitalsdienst und in der Praxis. Um zu einer richtigen Diagnose zu kommen, ist eine genaue Untersuchung des Kranken nötig. Man muß den Patienten vom Kopf bis Fuß durchuntersuchen. Die klassischen Methoden der Untersuchung sind die Inspektion, das Sehen und Beobachten, die Palpation, das Betasten, dann die Perkussion, das Beklopfen, um die lufthaltigen Organe von luftleeren abgrenzen zu können, z. B. die Abgrenzung von Lunge und Herz, ferner die Bestimmung der Größe der Leber und Milz sowie des Verhaltens von Magen und Darm. Der luftgefüllte Darm klingt beim Beklopfen wie eine Pauke, deswegen nennt man diesen Schall auch tymbanitisch. Dies alles habe ich nur kurz gestreift, um eine Uebersicht über die Tätigkeit des Arztes am Krankenbett zu geben. Nur eine genaue, systematische Untersuchung eines Kranken führt zu einer richtigen Diagnose. Eine richtige Diagnose ist aber auch die Bedingung für eine richtige Behandlung. Die sogenannte Blitzdiagnose ist mitunter auch richtig, aber nicht immer. Der sogenannte klinische Blick ist wertvoll, soll aber nicht davon abhalten, den Kranken systematisch genau zu untersuchen. An erster Stelle stehen die oben erwähnten grundlegenden Untersuchungsmethoden, das Betasten, Abklopfen und Abhorchen.

Wenn dies alles genau durchgeführt ist, kommen noch die Hilfswissenschaften dazu, die Durchleuchtung mit Röntgenstrahlen, das Elektrokardiogramm und die vielen chemischen und mikroskopischen Untersuchungen. Sie sind alle heute unentbehrlich. Man soll aber stets trachten, mit Hilfe der erwähnten einfachen Methoden des Beklopfens und Abhorchens genaue Befunde über kranke Organe zu erhalten.

Also gilt der Grundsatz: zuerst Abtasten, Beklopfen und Abhorchen, und dann kommt die Röntgenuntersuchung, nicht umgekehrt.

In der ganzen Welt, so auch in Wien, ist die wissenschaftliche Forschung bemüht, der Natur noch ungeklärte Geheimnisse abzulauschen. Jetzt, in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, ist der wissenschaftliche Kontakt mit anderen Ländern, namentlich mit England und Amerika, ein immer regerer, der Austausch von Studenten und Aerzten zur Ausbildung und Fortbildung wird immer intensiver, zum Wohle der Kranken.

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