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Von Großen der „Wiener medizinischen Schule“

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Es ist, wie wenn man Stammbaum und Geschichte eines berühmten Geschlechtes vor sich hätte, liest man die Gedenkschrift, die Burghard Breitner, Vorstand der chirurgischen Klinik der Innsbrucker Universität, seinem verstorbenen Lehrer Paul C 1 a i r-m o n t widmet *. Billroth, der Lehrer Anton von Eiseisbergs, dieser der Lehrer Clairmonts, und nun windet dessen Schüler Breitner seinem großen Vorfahren den Kranz. Über dieser Genealogie ärztlicher Wissenschaft schwebt ein Name: „Wiener medizinische Schule“, eigenartig verbunden mit der Schweiz: in Zürich hatte Billroth 1860 seine akademische Laufbahn begonnen, 1867 erfolgte seine Berufung nach Wien; in Clairmont, Eiseisbergs Assistenten, der 1912 die Professur an der Wiener Universität erhält, schwingt 1918 die Kurve mit der Berufung dieses geborenen Wieners als Ordinarius an die Zürcher Universität zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Ein fast unermeßliches Geschehen auf dem Gebiete der Medizin liegt in dem Zeitraum umschlossen, den in der Heilwissenschaft diese Namen decken. Burghard Breitner gibt von dieser Ära und ihren geistigen Führern in seiner eben erschienenen Monographie eine Schilderung, in der die Dankbarkeit des Nachfahren für die vorausgegangenen Meister zu einer Rhapsodie aufsteigt. Professor Dr. O. Schürch, Basel, der das Vorwort schrieb, spricht von einem Lied, einem „lauten und stolzen Lied“, „das Zeiten schildert, wo die Chirurgen auf großen Schiffen, den Sänger an Bord, stolz übers Meer fuhren“. Es ist wahr, man möchte meinen, hier habe ein Dichter, nicht ein bedeutender Chirurg zur Feder gegriffen. Seine Schrift ist über den Rahmen des Lebensbildes hinaus, das ihr Titel verzeichnet, eine Erinnerung an eine der ehrenreichsten Perioden österreichischer wissenschaftlicher Weltgeltung.

„Die neuen Probleme“, schreibt Breitner, „die das Genie B i 11 r o t h s und seiner großen Zeitgenossen gewiesen hatten, setzten viel« Hirne und Hände in Bewegung. In ganz Europa begann, getragen von den Segnungen der Asepsis und der Anästhesie, ein, ungeahnter Aufschwung der Chirurgie. Lord Lister lieh dem Diadem der englischen Medizin den neuen Glanz. Frankreichs Chirurgie setzt« zur neuen Blüte an, aus der später Tillaux, Reclus, Guyon, Terrier, Gösset aufleuchteten. Theodor Kocher rückte die Schweizer Chirurgenschule in den vordersten Blickpunkt des Kontinents. Als Erscheinung von größtem Format vertrat Pirogoff die russische Chirurgie. In Österreich schien mit der Ära Billroths und seiner Schüler noch einmal jene glückliche Hochflut ärztlicher Großleistungen anzuschwellen, die einst der Zweiten medizinischen

Schule Wiens ihre Weltbedeutung verliehen hatte. Aber es waren jetzt nicht die erregenden Neuerungen, wie sie vor allem Billroths Schüler in Heidelberg (Czerny), in Utrecht (Calzer), in Breslau (v. Mikulicz) schufen — es wir die besondere universelle Eigenart der österreichischen Medizin, die sich in diesen Jahren immer deutlicher abzuzeichnen begann. Diese Eigenart des Geistes der österreichischen Medizin weist auf den Zusammenstrom westlicher und östlicher Kulturkräfte, auf eine glückliche Befruchtung durch fremde Geistigkeit, auf innere Strukturbildung durch die Assimilation ferner Gefühlswelten. Dieser Schmelztiegel des Abendlandes und seiner östlichen und südlichen Nachbarn wurde zum Glücksbecher einer erlebten Toleranz und in manchem zum Bewußtsein einer übernatürlichen Menschlichkeit.“

Die Eigenart der österreichischen Medizin bewährt sich abermals, als die Erfolge der chirurgischen Forschung dazu verleiten, die ärztliche Technik zum Selbstzweck zu machen, Chirurgie zu betreiben auf Kosten des Kranken; wiederum zeigt sich, vertreten durch die Billrothsche Schule, „die ausgleichende Art der österreichischen Medizin“, der es vor allem um den Menschen und die Verantwortung für den Menschen ging, und nicht um das, was Breitner an wertvollen Vertretern der medizinischen Wissenschaft der damaligen Zeit die „effektvolle Inthronisation der eigenen Erscheinung“ nennt. Die selbstlose Lehre, die rückhaltlose Vermittlung der eigenen Errungenschaft, das war die Billrothsche Art, die er an seine Schüler übertrug. Der Dedeutendste unter ihnen war Eiseisberg, der mit der Übernahme der Lehrkanzel seines Lehrers dem Gipfel seines großen Lebenswerkes entgegenging. Breitner erzählt aus den damaligen Intimitäten des klinischen Betriebes unter Eiseisberg:

„Es mag anfangs die gleichermaßen mitreißende wie distanzierende Wirkung Billroths gewesen sein, die Eiseisberg den Wert der Form, die Magie des äußeren Bildes aufdrängte. Es war von großer Eindringlichkeit, wie er sie mit eigenem Wesen erfüllte. Was bei seinem Meister in der Vielheit seiner Begabung und in seinem künstlerischen Kern begründet war, bezog Eiseisberg allein auf die entscheidungsschwere und mit größter Verantwortlichkeit belastete Welt seines Faches. Und gerade dies« Sublimierung mußte ihn zum Schöpfer einer bis dahin unbekannten Art einer Schule machen. Das äußere Format dieser Schule erforderte Härte und Kompro-mißlosigkeit. Sie konnten nur von einem, der als Herr gelten durfte, gefordert werden. Dieser Herr war Eiseisberg. Die Überlegenheit einer umfassenden Bildung gab das Netz, in das die Besonderheiten der Erziehung gewebt wurden.

Die Forderung der Form ging nach der unscheinbarsten Äußerlichkeit. Nichtrasiert-sein, ungepflegte Zähne, Hände, Kleidung brachten einen Blick des Tadels, der nicht mehr wiederholt zu werden brauchte. In Gegenwart des Patienten zu rauchen oder zu essen, war undenkbar. Man war nicht Maschine, aber döe Selbstbeherrschung ging bis zum letzten. Man hatte keinen Hunger, keinen Durst, keinen Schlaf. Das waren Angelegenheiten der wenigen ,privaten' Stunden. Schlagfertigkeit wurde geschätzt, Aufrichtigkeit gefördert. Unverläßlichkeit ergab eine Kluft, die nur selten mehr zu überschreiten war. Die Distanz war ehern. Vertraulichkeiten waren ausgeschlossen. Man wußte in dieser Klinik wahrhaftig, wo oben und wo unten war. Aber jeder sah gleichzeitig die W Möglichkeit, auf dieser klaren Stufenleiter weiterzuschreiten. Die Bedingungen waren eindeutig. Waren sie einmal durch rein Menschliches verschleiert, kamen sie sonst desto nachdrücklicher zum Durchbruch. Das Startniveau des Adepten war ein hohes. Wissenschaftliche Produktivität führte am raschesten in die Bahn. War sie betreten, fand die Förderung kein Ende.“

„Wer die Blütejahre der Klinik Eiseisberg nicht selbst erlebte“, bezeugt Breitner, „kann die hypnotische Gewalt eines vollendeten Systems nicht ermessen.“ Damals ist alle Welt, vor allem Amerika, in diese österreichische Schule gegangen.

Rückschauend auf Eiseisbergs Nachfolger Egon R a n z i, den hochbegabten, frühverstorbenen Eiselsberg-Schüler Peter von W a 1 z e 1 und C 1 a i r m o n r^sagt Breitner: „Es war der Boden Wiens, auf dem dieser innere Formenreichtum einer ärztlichen Schule emporwuchs. Derselbe Boden, auf dem schon einmal das europäische Ar/ttum in seiner Universalität eine höchste Blüte entfaltet hatte. Wie im Paris der Glanzzeit der ärztlichen Akademie, die zum Lehrer Europas wurde, in weiterem Abstand die ruhmvolle Epoche eines Doyen, Gösset, de Martell folgte, warf der überreiche Kulturboden einer gleich europäisch durchbluteten, vom Geiste gestaltender Freiheit und künstlerischem Genießen belebten Weltstadt noch einmal eine vollendete Schöpfung ans Licht. Sie wurde ein Mahnmal im Antlitz Österreichs. Ein Wahrzeichen seines Wertes und seiner Geltung.**

In Clairmont sieht sein Innsbrucker Porträtist vor allem das „unerreichte Vorbild“ des klinischen Lehrers, die faszinierende Erscheinung, die die Studenten begeisterte. Wahres Arzttum den jungen Menschen als Geschenk und Begnadigung nahegebracht, „sie zu jener Höhe geführt zu haben, das dem Wirken des Arztes die Weihe gibt“, das war die große seelische Macht des Lehrers, die Breitner an Clairmont rühmt; ihm sei die Genialität des wissenschaftlichen Lehrens gegeben gewesen, die mit den Mitteln der Kunst um die Eindringlichkeit eines ethisch-erfühlbaren Besitzes ringe. Ethos des Arztes — das Wissen um dieses Ethos war die wundervolle Gabe, die Billroth und Eiseisberg ihren Hörern schenkten und sie galt auch für Clairmont als unerläßliche Voraussetzung. Und doch widmete er ihr — berichtet Breitner — kein Wort. „Aber wie er den Kranken befragte, wie er ihn untersuchte, wie er sich mit ihm über sein Leiden auseinandersetzte — darin kam mit besonderer erzieherischer Eindringlichkeit jenes freie, große, gütige Menschentum zum Ausdruck, das der Schule Billroths zum Symbol geworden war.“ Der Innsbrucker Gelehrte spricht von Clairmont als einer „einmaligen Erscheinung“.

Die Schrift Breitners will das Bild des Lehrers mit dem „Lorbeer seiner Lehre“ umrahmen. Aber sie ist doch wohl auch zur rechten Zeit ein Mahnen daran, was im europäischen Kulturbilde die historische „Wiener medizinische Sdiule“ war und auch heute noch zu sein berufen ist. Es genügt nicht, daß das Erbe, das hier zu bewahren ist, in Liebe und Treue von seinen nächsten Verwahrern behütet wird, dieses große allgemeine Gut ist der verständnisvollen Obsorge auch von Staat und Gesellschaft anvertraut.

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