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Die drei Wiener medizinischen Schulen

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Die drei Wiener medizinischen Schulen verdanken ihren Ruhm einer Reihe bahnbrechender Männer, die zu den Werkmeistern österreichischer Kulturgroßmacht zählen. Trotzdem sind ihre Namen der Gegenwart vielfach entschwunden: nur wenige Österreicher kennen noch ihre Bedeutung und ihre Leistungen.

Mit Paracelsus, der am 24. September 1541 in Salzburg gestorben ist und von dessen Lehren manche in Beziehungen zur heutigen Heilkunde stehen, beginnt die Geschichte der Medizin in Österreich. Nach seinem Tode währte durch zwei Jahrhunderte ein Stillstand in der Entwicklung der medizinischen Wissenschaften in Österreich, der um die Mitte des 18. Jahrhunderts durch einen jähen Aufschwung abgelöst wurde; in kaum zwei Jahrzehnten bekam Wien eine medizinische Schule, die zum Stolz des Reiches wurde. Diesen Aufstieg verdankte Wien zunächst der Kaiserin Maria Theresia und der weitumspannenden Reformtätigkeit und Organisationsbegabung ihres Leibarztes Gerhard van Swieten, der, am 7. Mai 1700 in Leyden geboren, im Sommer 1745 von Maria Theresia nach Wien berufen worden war. Als kaiserlicher Leibarzt Direktor aller medizinischen Angelegenheiten in den Erblanden und als Vorsitzender der Sanitätshofdeputation stand ihm ein großer Wirkungskreis offen. Er nützte ihn glücklich. Seine bedeutsamste Schöpfung, durch die er zum Gründer der ersten Wiener medizinischen Schule wurde, war die Einrichtung einer stationären Klinik, die zur Wiege des Ruhmes der österreichischen Medizin wurde. Auf seine Vorschläge wurden nach Wien der klassische Internist Anlon van Hafen aus Holland berufen und Wiens botanischer Garten errichtet, zu dessen

Leiter er seinen Landsmann Jacquin bestellte. Swieten starb in Wien am 18. Juni 1772. Sein Standbild steht unter ihren Paladinen seiner kaiserlichen Gönnerin auf dem Wiener Maria-Theresien-Denk-mal.

Während seiner Lebenszeit erfand und veröffentlichte Leopold Auenbrug-g e r, der Sohn eines Grazer Gastwirtes, seine Perkussionsmethode zur Feststellung der Brustleiden, die einen epochalen Fortschritt der Heilerfolge einleitete. Auenbrugger wirkte als vielgesuchter Praktiker in Wien, wo er 1809 starb. Die Stadt ehrte ihn durch eine Straßenbenennung im dritten Bezirk. Von 1789 bis 1822 lehrle Lukas Johann Boer als Professor der Geburtshilfe an der Wiener Universität. Von ihm, dem größten Geburtshelfer seiner Zeit, hat die moderne Geburtshilfe Ausgang genommen.

Der im Jahre 1795 zum Direktor des Wiener Allgemeinen Krankenhauses und zum Professor ihrer medizinischen Klinik ernannte Johann Peter Frank bekleidete diese Doppelposten fast ein Jahrzehnt. Im Betrieb des am 16. August 1784 von Kaiser Joseph II. seiner Bestimmung übergebenen Wiener Allgemeinen Krankenhauses waren bald Mißstände eingetreten. Frank brachte rasch Ordnung. Seine Organisation des Krankenhauses und seiner internen Klinik wurden vorbildlich für die meisten Anstalten Deutschlands; nicht wenige seiner sinnvoll erdachten Einführungen wirken noch in der Gegenwart weiter. Durch Anfeindungen vergrämt, verließ er 1804 Wien und wurde kaiserlicher Leibarzt in Petersburg. Er kehrte 1808 nach Wien zurück, wo er bis zu seinem Tode am 24. April 1821 eine ausgedehnte Praxis als Konziliarius ausübte. Sein Denkmal steht im großen Eingangshof des Wiener Allgemeinen Krankenhauses.

Mit Frank schließt die erste Wiener medizinische Schule, die noch weitere bedeutende Lehrer hatte. Sie konnte ihre Höhe nicht halten. Ein langsamer, aber steter Abstieg setzte ein. Doch im vierten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts entstand ganz unvermittelt die zweite Wiener medizinische Schule, die Jahrzehnte das Weltzentrum der Medizin bildete. Der Mann, der zu ihrem Begründer wurde, war Karl Rokitansky, geboren am 19. Februar 1804 in Königgrätz als Sohn eines wiederholt ausgezeichneten politischen Beamten und am 8. Jänner 1834 zum Professor der pathologischen Anatomie in Wien ernannt. Seine Bedeutung liegt vor allem darin, daß er die pathologische Anatomie nach neuen Gesichtspunkten bearbeitete und sie zum Fundament der Heilkunde machte. Die Frucht seiner Beobachtungen und Erfahrungen war sein weltberühmtes, dreibändiges „Handbuch der pathologischen Anatomie“, das in den Jahren 1842 bis 1846 erstmalig erschien und in seinen Grundlagen auch heute nicht veraltet ist. Karl Rokitanskys Geist war eine glückliche Vereinigung von Wissenschaft und Kunst, durchsonnt von unendlicher Güte, Neid-losigkeit und Liebe. Er schätzte die Musik als Ausübender und Zuhörer. Er meisterte aber auch den Stift; seine anatomischen Zeichnungen sind wahre Kunstblätter. Weit über sein Spezialgebiet hinaus nahm er als philosophischer Denker in klassischen Monographien und in Reden, die er als Mitglied und späterer Präsident der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften und als Herrenhausmitglied hielt, zu den großen Fragen des Lebens, der Gesellschaft und der Politik oft Stellung. Staunenswert ist die gewaltige Vielseitigkeit dieses Mannes. Geliebt von den Studenten aller Fakultäten, die ihn ,Vater Roki“ nannten, schloß er, im Leben von seinem Kaiser und den Mitbürgern hoch geehrt, am 19. Juli 1878 seine Augen. Im ehemaligen Vorort und jetzigen Bezirk Wiens, Hernais, wo er auch lange Jahre Gemeinderat war, trägt eine Gasse seinen Namen.

Ungefähr zugleich mit Rokitansky kam . der am 5. Dezember 1805 in Pilsen als Sohn eines Schlossers geborene Josef Skoda nach Wien. Er wurde am 15. Oktober 1846 zum Professor und Vorstand der Klinik für interne Krankheiten ernannt. Als Internist erwarb er großen Ruhm. An Stelle der umständlichen Beschreibungen des Perkussionsschalles stellte er vier Schallskalen auf; seine 1839 erschienene Abhandlung über Perkussion und Auskultation“ ist jenes Werk, das einen Wendepunkt in der Entwicklung der internen Medizin bildete. Im Jahre 1871 trat Skoda wegen Kränklichkeit in den Ruhestand, am 13. Jänner 1881 ist er gestorben. Die Skodagasse in Wien erinnert an ihn.

Als am 17. Juli 1894 der große Anatom Josef Hyrtl plötzlich in Perchtoldsdorf gestorben war, begann der Nachruf einer großen Wiener Zeitung mit den Worten: „Der letzte Atemzug der alten medizinischen Schule Wiens — er ist geschehen.“ Damit ist die überragende Bedeutung dieses am 7. Dezember 1811 in Eisenstadt als Sohn des Oboespielers Jakob Hyrtl geborenen Mannes erfaßt. Im Jahre 1845 von der Prager Universität nach Wien als Professor der Anatomie berufen, übte er durch 30 Jahre dort seine Professur aus. Wegen seiner blendenden Rednergabe nannte man ihn den Demosthenes des Seziersaales. Ein in 20 Auflagen erschienenes, in viele Sprachen übersetztes „Lehrbuch der Anatomie“ trug seinen Namen in die Ferne.

Man nannte Rokitansky — Skoda — Hyrtl „das Dreigestirn“ der Wiener medizinischen Schule. Mit diesem Dreigestirn vereinigten sich der große Dermatologe Ferdinand H e b r a, dessen Atlas und Lehrbuch der Hautkrankheiten klassische Bedeutung besitzt, und ein Kreis hervorragender Forscher und Lehrer, die alle nahezu Weltruhm hatten, darunter der große Gehirnanatom und Psychiater Theodor Meynert, zu einer glänzenden Versammlung.

Während des 7. und 8. Jahrzehnts des verflossenen Jahrhunderts gleitet die zweite Wiener medizinische Schule unmerklich in die dritte überj neben die alten treten junge Kräfte,- beide arbeiten längere Zeit gemeinsam, bis die alten abtreten und den neuen Männern, die sodann die dritte medizinische Schule bilden, das Arbeitsfeld überlassen. Charakteristisch für diese ist die Aufspaltung großer, bisher geschlossener Gebiete der Medizin in immer zahlreicher werdende Einzelfächer und die Aufnahme vieler neuer Zweige, wie zum Beispiel der Röntgenologie und der Orthopädie, wobei dank der Zahl und der besonderen Fähigkeit ihrer Lehrer kein Zweig der so differenzierten medizinischen Wissenschaft ohne intensive Pflege bleibt und nicht wenig theoretische, methodische und praktische Errungenschaften von ihr ausgegangen sind. Auch die Mitglieder dieser Schule weilen nicht mehr unter uns. Die Ergebnisse ihrer Arbeit aber gehören zum täglichen Rüstzeug der modernen Medizin; ihre Namen sind noch heute der Ärzteschaft vertraut und der gebildeten Öffentlichkeit bekannt. Trotzdem seien, ohne die anderen zu vergessen, genannt: der 1894 gestorbene Theodor B i 11 r o t h, der Heros der Chirurgie und große Musiker, der 1940 gestorbene Psychiater Julius Wagner-Jauregg, dessen Malariabehandlung der Paralyse unzähligen Unglücklichen hilft, der erst 1946 hochbetagt gestorbene „Vater“ der Orthopädie, Adolf Lorenz, der „trockene“ Chirurg, der zum Wohltäter zahlreicher Krüppel wurde.

Der über zwei Jahrhunderte gespannte Bogen der drei medizinischen Schulen bietet eine großartige Schau der medizinischen Entwicklung in Wien — einer Entwicklung, die aus dem kulturellen und geistigen Leben Österreichs nicht hinwegzudenken ist.

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