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Die Kanonistik

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Die erfreulich günstige Aufnahme der Gründung einer „österreichischen Gesellschaft für Kircįenrecht“ gewinnt über den eigentlichen Kreis der Beteiligten an Bedeutung, weil sie mehr als ein Beweis dafür ist, daß die Pflege dieser Disziplin in Lehre und Praxis zu den festen Bestandteilen der am Rechtsleben in Österreich interessierten Kreise gehört. Die Gründer machten sich dabei das Beispiel zunutze, das ähnliche Vereinigungen gaben, vor allem die blühende „Gesellschaft für kanonisches Recht“, die seit einigen Jahren Wissenschaft und Praxis des Kirchenrechts in den Vereinigten Staaten zu einer erfolgreichen Gemeinschaft vereinigt. Der Rahmen der österreichischen Gesellschaft wurde dabei weiter gezogen, indem über die Pflege des katholischen Kirchenrechts hinaus auch das Recht der evangelischen und orientalischen Bekenntnisse sowie das Staatskirchenrecht in den Arbeitsbereich Aufnahme finden. Die spontane Beteiligung aus allen österreichischen Diözesen sowie einer beachtlichen Zahl von Juristen aus den verschiedenen Zweigen des österreichischen Rechtslebens bietet zusammen mit der Teilnahme aller einschlägigen Lehrkanzeln an den katholischen, den evangelischen und den juristischen Fakultäten eine sichere Gewähr, daß Wissenschaft und Praxis ein gemeinsames Forum finden werden.

Für Österreich gewinnt die Pflege des Kirchenrechts noch an wesentlicher Bedeutung, da dieses Fach als Pflichtgegenstand — nicht zuletzt durch die Bemühungen des Nestors der österreichischen Kirchenrechtswissenschaft, Universitätsprofessor Dr. Rudolf Köstler — im Jahre 1945 wieder in die Studienordnung unserer rechts- und taatswissenschaftlichen Fakultäten auf- Igenommen wurde. In der Tat ist Kirchen- recht das älteste juristische Fach in Österreich, denn an der 1365 gegründeten Wiener Universität wurde in der Rechtsschule zunächst ausschließlich das kanonische Recht gelehrt, dem sich erst späterdas römisdieRecht beigesellte. Die Geschichte der Kirchenrechtswissenschaft an der Wiener Hohen Schule ist noch nicht geschrieben. Es wäre wohl eine dankbare Aufgabe, die in vieler Hinsicht ein interessantes Licht auf die gcistesgeschichtliche Entwicklung unserer Alma Mater werfen würde. Es sei hier nur an die Teilnahme von Wiener Kanonisten an den Konzilen von Konstanz und Basel erinnert, deren Haltung in gewisser Hinsicht die antikurialistischen Strömungen unterstützte. Oder an das josephinische Staatskirchentum, das in Wien das Zentrum seiner gelehrten Interpreten fand. Doch darf aus diesen Beispielen .nicht geschlossen werden, daß die Wiener Kanonisten sozusagen traditionell von der allgemeinen Linie abzuweichen pflegten.

Es würde zu weit führen, durch eine größere Zahl von Beispielen die Bedeutung der Kainonistik während der langen Geschichte nicht nur der Wiener Universität, sondern aller österreichischen Universitäten zu unterstreichen, da ja an der Pflege dieses Faches in nicht minder hohem Maße die theologischen Fakultäten beteiligt waren, obgleich nicht zu verkennen ist, daß der Schwerpunkt meist bei den Rechtsfakultäten lag. Die letzte große Blütezeit wurde durch die Studienreform des Grafen Thun im Jahre 1849 eingeleitet. Namen wie Georg Philips und Ernst Freiherr von Moy de Sons, die beide nach ihrer Entlassung von der Münchner, Universität im Zusammenhang mit ihrer Kritik der sogenannten, seinerzeit großes Aufsehen erregenden Lola- Montez-Affäre nach Österreich Berufungen erhielten, sind bleibend mit dem neuen Aufschwung des Kirchenrechtsstudiums an den österreichischen Universitäten im 19. Jahrhundert verbunden. Auf ihre Anregung geht auch die Gründung des „Archivs für katholisches Kirchenrecht,’ zurück, einst die große Zeitschrift der Kirchenrechtswissenschaft, die erst später nach Deutschland abwanderte. Entsprechend dem Plane der juristischen Studienordnung kam auch di Rechtsgeschichte wieder zur Geltung, was wieder der Erforschung der Geschichte des Kirchenrechts zugute kam. Auch hier waren Philips und Moy de Sons bahnbrechend, denen sich eine Reihe glänzender Namen, wie Maassen, Vering, Thaner, Laurin und Hörman, anschloß, die bis ins 20. Jahrhundert reicht. Jedoch blieb die kirchliche Rechtsgeschichte nicht das einzige Feld, auf dem sich die österreichischen Kirchenrechtslehrer auszeichneten. Aus dem Gebiete der Systematik und des Staatskirchenrechts sind Werke von Pach- mann, Kutschker, Aichner, Hussarek-Heinlein, Scherer und des vor kurzem verstorbenen Haring, um nur einige zu nennen, nicht wegzudenken.

Diesen schließt sich als würdiges Glied zur Gegenwart, seiner Zeit vielfach vorauseilend, Rudolf Köstler an, dessen universale Beherrschung aller Sparten des Kirchenrechts ihn prädestinierten, der von ihm geleiteten Wiener Schule des Kirchenrechts auch jene universalistische Prägung der Kirchenrechtswissenschaft zu geben, die heute von der modernen Methodik erstrebt wird. Darin aber und in dem Umstand, daß die Mehrzahl der heute in Österreich wirkenden Kirchenrechtslehrer seiner Schule entstammen und ernstlich bestrebt sind, den von Köstler vertretenen Universalismus — „das Kirchenrecht in seiner Gesamtschau zu erfassen“ — zu folgen, liegt die nicht unbegründete Hoffnung, daß die Kirchenrechtslehre in Österreich auch weiterhin gute Früchte zeitigen wird. Die Schulung, wie sie Köstler in seinem Seminar vermittelte, stellt eine einzigartige Synthese von Naturrechtsphilosophie, Rechtstheorie, Geschichte und _ Rechtsdogmatik dar, die weit über die Grenzen unserer Heimat bekannt ist. Dafür wurden mir während meiner Lehrtätigkeit an ausländischen Universitäten zahlreiche Beweise erbracht und ich darf anfügen, daß sie mir selbst in hohem Maße zum „Kreditbrief“ meiner eigenen wissenschaftlichen Arbeiten wurde.

Man wendet mitunter ein, daß das Kirchenrecht an den modernen Rechtsschulen ein Anachronismus sei. Ja selbst in kirchlichen Kreisen kann man erleben — und erlebte es —, daß man mit Verwunderung und manchmal sogar mit leisen Zweifeln die Legitimation von „Laien“ zur Vertretung dieses Faches betrachtet. Ein Blick in die Geschichte der Kanonistik, vor allem der mittelalterlichen Blütezeit und der beginnenden Neuzeit, erbringt den historischen Beweis, wie sehr das „Laienelement“ nichtigeistlicher Kanonisten am Glanz dieser Wissenschaft beteiligt war. Und der Beitrag, den im vergangenen Jahrhundert bis in die Gegenwart die „Laien“-Kanonisten lieferten, kann kaum gegen sie ins Treffen geführt werden. Welch gewaltigen Einfluß das Kirchenrecht gerade auf die Gestaltung des abendländischen Rechts genommen hat, braucht wohl hier nicht näher erörtert zu werden. Es ist wohl bezeichnend, daß man sich heute in den angelsächsischen Ländern wieder der seit der Reformation mehr und mehr vernachlässigten Erforschung dieses Rechts zuwendet, um den historischen Werdegang des common law mit einem aufgeschlosseneren Blick zu erfassen. Das gilt in noch höherem Maße für das österreichische Recht.

Das Kirchenrecht hat aber als Zweig des Rechtsstudiums nicht bloß eine historische Bedeutung, obgleich es nach der seit 1945 wieder geltenden Studienordnung erneut dem rechtshistorischen Abschnitt zugewiesen wurde. Es ist — zum Unterschied vom römischen Recht und der deutschen Rechtsgeschichte — historisches und geltendes Recht zugleich. Was für eine Quelle wissenschaftlicher Schulung bedeutet aber gerade für den interessierten Juristen das moderne Gesetzbuch der lateinischen Kirche, dessen Methodik und Systematik die modernste Ausdrucksform juristischer Ko- difizierung ist. Doch nicht die rechtstechnische Seite allein ist es: der Geist und Inhalt des Rechts, dessen auf dem Naturrecht begründete Philosophie der unabänderlichen Rechtmäßigkeit, der strengen Wahrung ewiger sittlicher Werte und der unbeugsamen Achtung der Menschenwürde ist wie der ewige Fels, auf dem der Schöpfer dieses Rechts gegründet ist, unerschüttert geblieben in einer Zeit, da das Gefüge menschlichen Rechts so sehr in Brüche ging. Das geltende Kirchenrecht kennt keine Vertrauenskrise, keine Rechts- angleichung an wechselnde Systeme, keine Säuberung und keine Wiederverlautbarung.

Der Grundsatz „Macht ist Recht“ ist dem Kirchenrecht unbekannt. Es ist das einzige geltende Recht, das des äußeren Zwanges entbehrt und dennoch von der Großstadt bis zur kleinsten Missionshütte im Urwald, Völker und Kontinente verbindend, von einer wahrhaft universalen Gemeinschaft beobachtet wird. Es ist das Recht des Friedens und der Menschlichkeit. Wenn auch fast zwei Jahrtausende an seinem Werden mitgewirkt haben, ewige Normen des göttlichen Rechts und der apostolischen Tradition in unveränderter Form sein ehernes Gerüst bilden, so ist es dennoch ein lebendes Recht, das nicht veraltet. In der Anerkennung der schöpferisch wirksamen Quelle des Gewohnheitsrechts — auch ein Unterschied zu den vorherrschenden Tendenzen der heutigen Rechtssysteme — liegt der stärkste Impuls, daß die lebende Kirche ihr Recht lebens nah erhält. Nicht umsonst weist deshalb der Codex der Gewohnheit die Rolle des „besten Interpreten der Gesetze“ zu.

Das sind Fragen und Probleme, die um viele andere Beispiele vermehrt werden könnten. Dadurch aber gewinnt das Kirchenrecht und seine Lehre writ über das Fachliche hinaus an Bedeutung und sprengt den Rahmen einer bloß kirchlichen Frage. Darin aber auch ist der Anspruch begründet, der der Kanonistik als wesentlichem Erziehungsfaktor bei der Heranbildung einer neuen österreichischen Juristengeneration seinen notwendigen Platz einräumt. Daß seiner Pflege und Förderung ein so großes Interesse entgegengebracht wird, darf als gutes Omen gewertet werden.

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