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Acht Jahrhunderte kirchliche Rechtswissenschaft

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Zum Gedächtnis der 800jährigen Wiederkehr der Vollendung des Decretum Gratiani wurde vom 17. bis 22. April ein internationaler Kongreß der Kirchenrechtslehrer abgehalten, der in Bologna seinen Anfang nahm und in Rom feierlidi beschlossen wurde. Es war eine großartige Kundgebung des Rechts und der Rechtswissenschaft, die mehr als 150 wissenschaftliche Vertreter und zahlreiche weitere Gäste vereinigte. Sie galt dem Wirken eines Mannes, der als bescheidener Kamaldulensermönch im Kloster der Heiligen Nabor und Felix zu Bologna vor mehr als 800 Jahren ein Werk unternommen hatte, das begründend und bestimmend wurde für die Entwicklung des Kirchenrechts und der kirchenrechtlichen Wissenschaft. Magister Gratianus war Professor an der Hohen Schule zu Bologna und hatte es unternommen, in einer heute noch immer staunenerregenden Weise die gesamte Materie des Kirchenrechts mit ihren oft widersprechenden Quellen zusammenzufassen, harmonisch zu gliedern und, wie er selbst wollte, zu einer Concordia dis- cordantium canonum zu formen. Hatte Bologna durch seine Romanistenschule schon vorher dem römischen Recht neuen Ruhm und Glanz verliehen, so war es in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts Gratian, der durch sein Werk die Grundlage der wissenschaftlichen Behandlung des Kirchenrechts schuf und damit zum Vater der Kanonistik wurde, die zur Zeit der Hochblüte des Kirchenrechts im Mittelalter zu den entscheidenden Quellen der abendländischen Rechtsidee wurde.

Kein Wunder, daß in einer Zeit, die oft genug Macht mit Recht verwechselt, einer Kundgebung zu Ehren des Schöpfers dieses Werkes größte Aufmerksamkeit zukam. Staatspräsident E i n a u d i nahm an der feierlichen Eröffnung in der Universität Bologna teil, und Papst Pius XII., selbst ein gelehrter Kanonist, der als junger Mann an der Kodifikation des gegenwärtig geltenden kirchlichen Gesetzbuches mitgearbeitet hat, beschloß den Kongreß durch eine von tiefstem wissenschaftlichem Verständnis erfüllte Ansprache.

Der Kongreß stand unter der Leitung eines wissenschaftlichen Zentralkomitees, dessen Präsident Stefan K u 11 n e r (Washington), Vizepräsident Gabriel L e B r a s (Paris) und treibende und entscheidende Kraft Giuseppe F o r c h i- e 11 i, der Inhaber der Lehrkanzel für Kirchenrecht an der Universität zu Bologna, waren. Diesem Zentralkomitee gehörten auch zwei Österreicher an, Pater Stickler (Turin) und P 1 ö c h 1 (Wien). Ein wesentlicher Anteil am GdTingen kommt auch dem Philosophiepröfessor zu Bologna, Felice Battaglia zu, der als derzeitiger Rektor der Universität in überaus sympathischer Weise die Würde der Universität vertrat und in seiner Festansprache sowie in seinem Schlußwort zu Rom die Universalität des Kirchenrechts und seine Bedeutung für die übrigen wissenschaftlichen Disziplinen darlegte.

Der Vatikan, die italienische Republik, Bologna, Ravenna, Orvieto und andere Städte hatten in harmonischem Wettstreit zusammengewirkt, den Kongreß zu einem glänzend organisierten Fest zu gestalten. Die Anteilnahme des Kamaldulenser- ordens, dessen berühmtester Sohn Gratian war, durch seinen Generalprior Pater G i a b b a n i gab dem Kongreß ein unvergeßliches Gepräge.

Trotz des reichen Programms bedeuteten die wissenschaftlichen Sitzungen des Kongresses Stunden fruchtbarster Arbeit. Professor Le Bras gab eine Übersicht über die rund 100 Beiträge, die aus aller Welt zu dem Sammelwerk der Studia Gratiani eingetroffen waren, und hob dabei die Beiträge österreichischer Wissenschafter hervor. Die Studien sind im wahrsten Sinne des Wortes ein universaler Beitrag zur Wissenschaft des Gratianischen Dekrets und berühren nahezu jede Sparte der Rechtswissenschaft sowie der Geschichtsforschung und Quellenforschung zum Dekret. Bei den Sitzungen kam auch immer wieder das hohe Ansehen der österreichischen Kirchenrechtswissenschaft in der Welt zum Ausdruck. Ein besonderes Augenmerk des Kongresses war den Vorbereitungen für die Neuausgabe des Gratianischen Dekrets und der Glossa ordinaria gewidmet, die durch die Ausgabe einer Sammlung der noch nicht veröffentlichten rechtswissenschaftlichen Manuskripte (Monumentą iuris canonici mediaevalis oder Corpus decretistanim) ergänzt werden soll.

Auf der Audienz am 22. April gab Pius XII. eine Übersicht über die Bedeutung des Werkes des Magisters Gratianus und über die einzigartige Lehrmeisterin, die das Kirchenrecht im Rechtsdenken der Menschheit darstellt. „Das kanonische Recht senkt nämlich seine Wurzeln in das Erdreich der Offenbarung Christi, wo es von der ,temperantia’, von der ,huma- nitas’, der .asperitatis remissio’ und der .caritas’ wie von belebenden Wassern gespeist wird. Von Anfang an gaben diese Tugenden dem kanonischen Recht seine bezeichnenden Wesenszüge, indem sie ihm den Charakter der aequitas Christiana aufprägten, die sich sehr Paid zur aequitas canonica entfaltete.“

Der Papst hob die Bedeutung der Universität Bologna hervor, die mit Recht stolz darauf ist, Gratian zu dem bedeutendsten ihrer Lehrer zählen zu dürfen. „Die Universität möge auch in Zukunft wahrhaft gelehrte Männer heranbilden, würdig des ihnen von den Vätern anvertrauten Erbes, damit sie die überkommene christliche Kultur mit Erfolg zu verteidigen vermögen. Denn die christliche Kultur allein vermag die Menschheit vor dem Rückfall in die alten verhängnisvollen Verwirrungen des Geistes und der Sitten zu bewahren, sie allein befähigt den Menschen, sich auf dem Weg der Wahrheit und des Guten zu den Höhen sittlicher Kraft und echten Glückes zu erheben.“

Bei der anschließenden Vorstellung unterhielt sich der Heilige Vater mit jedem einzelnen Teilnehmer, unter denen sich zahlreiche evangelische Gelehrte befanden. Die Tatsache, daß die österreichische Delegation auch die einzige weibliche Vertreterin ihres Faches, Frau Dozent Dr. Lotte L e i t m a i e r, aufweisen konnte, wurde vom Papst begrüßt.

Neben dem äußeren Glanz und der ernsten wissenschaftlichen Arbeit, die der Kongreß mit sich brachte, ist es vor allem die Manifestation der Bedeutung des Kirchenrechts gewesen, als einer der aufbauenden und völkerverbindenden Kräfte der heutigen Weltkultur. Das Decretum Gratiani, das nach dem Willen seines Verfassers eine Concordia discordantium canonum sein sollte, wurde hier deutlich wieder zu einer Quelle des Concordia und des Friedens, dessen Kraft im ewig gleichen Rechte seines Schöpfers liegt.

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