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Die Wiener Schule der Slawistik

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Wien und seine Universität können auf eine glanzvolle slawistische Tradition zurückblicken. Die österreichische Schule der Slawistik, die Wien Jahrzehnte hindurch zum Mittelpunkt der slawistischen Forschung in Europa machte, hat, wie einer der besten Vertreter dieses Wissenszweiges einmal treffend feststellte, durch drei Generationen die slawische Philologie mächtig beeinflußt, die Sprach- und Kulturwissenschaft überhaupt stark gefördert und ihre Aufgabe glänzend erfüllt. Es ist das große Dreigestirn der Slowenen Kopitar und Miklosich und des Kroaten Jagic, das die Wiener Gelehrten-schule verkörpert, sowie der große Historiker Jirecek, dessen bedeutende Werke zur Balkankunde bahnbrechend wurden für die Erforschung des europäischen Südostens. Zwei Slowenen, ein Kroate und ein Tscheche, aber alle vier gute, überzeugte Österreicher, Meister in der Beherrschung der deutschen Sprache, der Stadt Wien treu bis zu ihrem Tode, und alle vier Repräsentanten jener alten übernationalen europäischen Kultur, zu deren vornehmsten Trägern das alte öster-reidi gehört hat. 1

Bartholomäus Kopitar (1780—1844), dei slowenische Bauernsohn, der in der kulturgesättigten ' deutsch-slawischen Atmosphäre des österreichischen Südens heranwuchs, um schließlich als reifer Mann nach Wien zu kommen und für immer in der Weltstadt an der Donau zu bleiben als einer der charakteristischen Repräsentanten ihres europäischen Universalismus, legte den Grund zur großen Wiener Schule der Slawistik. Erst sein Schüler Franz von Miklosich vertrat auf dem Boden der Alma mater Rudolphina die junge ' Disziplin, Kopitars Wirken ging von der Hofbibliothek aus, sein Amt war die Zensur der slawischen Bücher und die, Beratung der österreichischen Regierung in Fragen, die das kulturelle Werden der slawischen Kronländer betrafen. Aber gewaltig und tief war das Wirken dieses Philologen, der überzeugter, ja glühender Österreicher war, .ein tiefgläubiger Katholik, ein begeisterter Anhänger der klassischen Kultur Weimars, und der zum Vater und größten Künder des Austro-slawismus werden sollte. Schlözer und Herder, die beiden großen deutschen Denker, ohne deren Wirken der Aufstieg des Slawentums zu einem wesentlichen Faktor einer europäischen Kultur der Zukunft nicht zu denken ist, und deren Instinkt die schlummernden Kräfte der slawischen Welt spürte und dem Abendland sichtbar Werden ließ, Schlözer und Herder waren von großem, ja grundlegendem Einfluß auf die Entwicklung des jungen Kopitar, und sein Zusammenhang mit dem Geistesleben des universalen Deutschland der Goethezeit sollte immer ' enger werden. Bald sollte Kopitar selbst zum gebenden Teil werden. Er führte Wilhelm von Humboldt in die Slawistik, er führte Leopold von Ranke in die'Probleme des Südostens ein, durch ihn wurden Goethe und Jakob Grimm auf den großen serbischen Sprachschöpfer und Kulturpionier Vuk Karadzic aufmerksam. Den Höhepunkt seiner kulturvermittelnden und kulturschöpferischen Tätigkeit stellt aber wohl sein geistesgeschichtlich überaus bedeutsamer Briefwechsel mit Jakob Grimm dar, der zu den kostbarsten Dokumenten der letzten universal-europäischen Epoche gehört, die wir eben wohl am besten mit dem Worte Goethezeit benennen können.

Kopitar, der ein Jahr lang auch Schriftleiter der von Gentz begründeten Wiener Jahrbücher für Literatur war und der seine Werke deutsch schrieb, öffnete der Mitte und dem Westen Europas die Augen für die großen Probleme des Slawentums, im besonderen des Slawentums des Südostens. Seine große wissenschaftliche Leistung im engeren Sinne war seine Grammatik der slowenischen Sprache, aber gewaltiger als seine ausgeführten Werke waren seine Pläne einer großen slawischen Enzyklopädie und einer slawischen Zentralakademie in Wien. Von unbestechlicher wissenschaftlicher Sauberkeit, die ihn jeglichen Chauvinismus ablehnen und ihn als ersten gegen die Fälschungen Hankas auftreten ließ, aber voll tiefem Glauben an die kulturelle Mission Österreichs und Wiens, beschloß Bartholomäus Kopitar sein Leben in ungebrochener Arbeit für die austro-slawische Idee, unermüdlich tätig für die Entwicklung der Slawistik, der er in seinem genialen Schüler Franz von Miklosich einen ihrer umfassendsten Vertreter, einen Gelehrten von europäischem Rang heranbildete.

Franz von Miklosich (1813—1891) war gleich Kopitar Slowene, ein Sohn des österreichischen Südens; er wurde zum eigentlichen Begründer des akademischen slawistischen Studiums in Österreich. Seit 1849 gehörte er als Lehrkraft der Wiener Universität an und sein ganzes Leben lang blieb er der österreichischen Kaiserstadt treu, ungebrochen slawisches Volksbewußtsein, deutsches Kulturbewußtsein im Sinne der Klassik und österreichischen Patriotismus miteinander verbindend; seine vierbändige Grammatik der slawischen Sprachen, sein etymologisches Wörterbuch der slawischen Sprachen schrieb Miklosich, auch darin Kopitar verwandt, in deutscher Sprache. Seit 1851 gab Miklosich gemeinsam mit dem Wiener Historiker Fiedler eine „Slavische Bibliothek“ heraus. Fast alles, was er schrieb, ist niedergelegt in Denkschriften der Wiener Akademie der Wissenschaften, zu deren glanzvollsten Repräsentanten Miklosich in den Jahrzehnten seiner Wiener Lehrtätigkeit gehörte. Wie umfassend seine Persönlichkeit war, kann man wohl daraus ersehen, daß er auch im öffentlichen Leben des Kaiserstaates eine hervorragende Rolle spielte. So war Miklosich unter anderem im österreichischen Herrenhaus, in das ihn Kaiser Franz Josef berufen hatte, Generalberichterstatter für das Budget.

Im täglichen Verkehr mit Miklosich wuchs der dritte große slawische Philologe der Wiener Schule, der Kroate Vatroslav Jagic (1839—1923) zu dem Gelehrten von europäischem Rang, zum Gewissen der Slawistik in Österreich, Deutschland und Rußland empor. Jagic stammte aus Nordwestkroatien, war der Sohn eines Schuhmachers und der Neffe eines Geistlichen. Er kam aus bescheidenen, aber doch kukurgesättigten Verhältnissen. Seine Tätigkeit als Hochschullehrer begann Jagic 1871 in Odessa als Professor für vergleichende Spradiwissenschaft, und aus dieser Zeit datiert wohl seine Vertrautheit mit den russischen Dingen; aber bald kam Jagic nach Berlin, und hier gründete er unter tätiger Mitwirkung der maßgebenden Ber-- liner Kreise 1876 das „Archiv für slavische Philologie“, das für Jahrzehnte der unumstrittene Mittelpunkt der slawistischen Forschung für ganz Europa bleiben sollte. Die Gründung des „Archivs“ war eine wissenschaftliche Tat ersten Ranges. 1880—1886 lehrte Jagic in St. Petersburg, ohne indessen in der russischen Metropole Wurzel fassen zu können. 1886 folgte Jagic einer Berufung nach Wien, um hier das Erbe Miklosichs anzutreten und die Stadt nie mehr zu verlassen. Hier in Wien entstanden seine großen Werke, seine „Geschichte der slavischen Philologie“ (1910) und seine „Entstehungsgeschichte der kirchenslavischen Sprache“ (1913), die seinem Namen für alle Zeiten wissenschaftlichen Ruhm sichern und die wohl für immer zu den Fundamentalwerken der Slawistik zählen werden.

Jagic fühlte bewußt südslawisch. Im Herrenhaus, in das er als Nachfolger Miklosichs berufen wurde, nahm, er unter den Föderalisten Platz, ohne indessen politisch hervorzutreten. F917 hat er ein Buch über „Leben und Wirken des Juryj Krizanic“, den kroatischen Panslawisten des 17. Jahrhunderts, geschrieben, aber er war bei allem ungebrochen kroatischen Volksbewußtsein frei von jeglichem Chauvinismus, nationalem Radikalismus und Dünkel. Und als 1918 kam, Zusammenbruch und Zerfall der Donaumonarchie, konnte sich Jagic nicht von Wien trennen. Er erhielt auf besondere Bitte eine österreichische Pension und beschloß sein Wirken als Korrektor der Wiener Akademie der Wissenschaften, ein erschütterndes Symbol für die menschenformende Stärke der österreichischen Idee, für die . assimilierende Kraft der Donaumetropole, diese Treue des alten Jagic zu Wien und Österreich. Erst der Tote kehrte in seine kroatische Heimaterde zurück.

Der große Historiker des slawischen Südens Josef Konstantin Jirecek (1854 bis 1918) wurde in Wien als der Sohn einer tschechischen Beamtenfamilie geboren. Sein Vater wurde unter Hohenwart österreichischer Unterrichtsminister, sein Onkel war m der österreichischen Unterrichtsverwaltung tätig, sein Großvater mütterlicherseits war der berühmte Sprachforscher Safarik, einer der Wegbereiter der tschechischen Wiedergeburt im 19. Jahrhundert. Erst in seinem siebenten Lebensjahr erlernte Jirecek die deutsche Sprache, von 1864—1872 besuchte er das Wiener Theresiarrum, diese Pflanzstätte altösterreichischen Geistes, von 1872 bis 1875 die Prager Universität. In seinem väterlichen Hause verkehrten viele südslawische Persönlichkeiten, und früh wurde Jirecek mit Bulgaren und den Problemen der nationalen Entwicklung des bulgarischen Volkes bekannt. Mit noch nicht 22 Jahren schenkte der frühreife, glänzend erzogene, in seiner Haltung durchaus österreichisch eingestellte Wiener Tscheche der Welt sein erstes Meisterwerk, die „Geschichte der Bulgaren“. 1877 habilitierte sich Jirecek an der Prager Universität für Geographie und Geschichte von Südosteuropa und während des bosnischen Okkupationsfeldzuges arbeitete er in den Archiven Ragusas. Damals, als die österreichisch-ungarischen Truppen für die Donaumonarchie Bosnien-Herzegowina, das Schick-jalsland des Habsburgerreiches im Südosten, besetzten, eroberte Jirecek in den Archiven der alten Adriametropole der österreichischen Wissenschaft eine gewaltige Provinz. Und als er 1879 Generalsekretär des Sofioter Unterrichtsministeriums wurde, 1881—1882 das bulgarische Unterrichtsministerium leitete, sah er sich vor die gewaltige Aufgabe gestellt, 1 einem jungen, staatlich noch unerfahrenen Volke bei dessen Bemühungen um eine moderne Staatsverwaltung und Erziehung zu helfen. Jirecek hat zu seinem und zum Ruhme Alt-Österreichs, dessen' verfeinerte westliche Kultur er im ausgeprägten Maße verkörperte, diese Aufgabe gelöst, seine Gestalt ist aus den Anfängen der bulgarischen staatlichen Entwicklung nicht wegzudenken, aber Jirecek ging 1884 gerne nach Österreich zurück als Professor der allgemeinen Geschichte an der Prager tschechischen Universität, freilich um, wie er sich selbst ausdrückte, „aus dem bulgarischen Chaos ins tschechische“ zu geraten. Erst 1893, als er an die Wiener Universität berufen wurde, fand - er, der Alt-Österreicher, die ihm gemäße Atmosphäre, die ihn bis zu seinem Tode im Jahre 1918 umgeben sollte. Mit seiner Prager Professur aber hatte die Epoche seiner großen historiographischen Schöpfungen' begonnen, die ihn als einen der markantesten Gelehrten des letzten Jahrhunderts erscheinen lassen. In Prag las er seine grandiose Vorlesung über die Geschichte der orientalischen Frage seit 1683, sein tschechisch geschriebenes Werk „Reisen in Bulgarien“ bereitete seine große Monographie über „Das Fürstentum Bulgarien“ vor, vor allem aber rollte er in seinen Schriften „Die Wlachen und Mauro-wlachen in den Denkmälern von Ragusa“ und „Die Romanen in den Städten Dalmatiens während des Mittelalters“ das Problem der Balkahromanen auf, eines der völkerpsychologisch und soziologisch interessantesten Probleme der europäischen Geschichte überhaupt, und der Pflege der Balkankunde, der Geschichte der südslawischen Völker im Mittelalter und der Byzantinistik galt auch Jireceks Sorge und Arbeit in seiner Wiener Epoche von 1893 bis 1918. Er war in Wien Professor der slawischen Philologie und Altertumskunde, eine Umreißung seiner wissenschaftlichen und Lehraufgaben, die seiner Begabung und seinen Interessen nicht ganz gerecht zu werden vermochte, aber er Wieb auch an der Donau der Historiker des slawischen Südens, in origineller Weise auch als Vorstand des Seminars für osteuropäische Geschichte seit 1907 jene beiden Forschungsdisziplinen vereinend, die der große Jagic immer getrennt wissen, wollte: die Philologie und die Geschichtsschreibung. Und in Wien entstand dann, leider nur bis zum Jahre 1537 reichend, der ' gewaltige Torso seiner „Geschichte der Serben“, deren 1. Band 1911 erschien, ein Standardwerk der österreichischen, der slawischen und der deutschen Geschichtsschreibung, ein Wurf von großartiger Weite des Blickes und historischer Tiefensicht. Konstantin Jirecek verleugnete auch ia diesem seinem letzten Werke nicht, daß er,der einst bei dem Tschechen Tomek und dem Deutschen Höfler in Prag gehört hatte und dessen Leben und Wirken stets durch die innige Verbindung von slawischem und deutschem Wesen gekennzeichnet war, der Großösterreicher war und blieb, der, unberührt von jeglichem nationalen Radikalismus und verwurzelt im Boden Wiens, dem er entsprossen war, die Wahrheit suchte zur Ehre der österreichischen Wissenschaft und der großen Tradition der Wiener Slawistik und Geschichtsschreibung.

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