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Der Panslawismus, aus einsichtiger Fernsicht betrachtet

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Die Slawen und der Westen. Die Geschichte des Panslawismus. Von Hans Kohn. Verlag Herold, Wien-München. 359 Seiten. Preis 125 S

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Die Slawen und der Westen. Die Geschichte des Panslawismus. Von Hans Kohn. Verlag Herold, Wien-München. 359 Seiten. Preis 125 S

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Wenn je ein Buch, so kommt dieses zu seiner Zeit. Es beleuchtet die geschichtlichen Hintergründe einer der drei Grundtatsachen, auf denen die heutige Lage der östlichen Hälfte unseres Erdteils beruht, nämlich die sprachlich-kulturellen, rassisch mitbedingten Voraussetzungen; die beiden andern sind die glaubensmäßige und die wirtschaftlich-soziale Situation. Der Verfasser, Professor für Neuere Geschichte an amerikanischen Universitäten, entstammt dem gleichen Milieu wie Robert Kann, dessen „Multinational Empire“ (1950 in zwei Bänden erschienen) die beste Gesamtdarstellung des Habsburgerreichs zwischen dem Völkerfrühling von 1848 und dem Ende des ersten Weltkrieges bildet, wie vordem Heinrich Friedjung und Alfred v. Fischel, wie Joseph Redlich und ... Karl Kraus. Alle diese Sprossen deutschsprachiger, tief im österreichi-fchen Raum wurzelnden jüdischen Familien sind zugleich, wie der geniale Musiker Gustav M a h 1 e r oder der Dichter Franz W e r f e 1, von der slawischen Umwelt miterfaßt worden, in der sie oder noch ihre Eltern sich bewegten. Freilich war das Ergebnis der Herkunft aus einer dreifachen oder, wenn wir das Oesterreichische vom Deutschen sondern, aus einer vierfachen geistigen Heimat bei diesen, um ein Wort eines andern aus “ihrem Kreise abzuwandeln, „gelernten Zwischeneuropäern“, nicht immer dasselbe. Der eine nahm im Nationalitätenstreit leidenschaftlich für das Deutschtum Partei, der zweite für ein Oesterreich, in dem die Slawen doch nur „Karyatidenvölker mit struppigem Haupt“ gewesen wären; aber die dritten, auch die dritten, die sahen und die sehen mit unbestechlicher Klarheit, „wie es eigentlich gewesen ist“ und wie es hätte sein sollen. In diesem Punkte begegnen einander der Karl Kraus“ von „Franz Ferdinand und die Talente“ und die beiden ExÖsterreicher, die amerikanischen Hochschullehrer Kann und Hans Kohn.

Es genügt, das inhaltsreiche Werk, dessen englischer Originaltitel („Pan-Slavism. lts History and Ideology“) besser gewählt ist als der seiner deutschen Uebertragung, mit der 1919 veröffentlichten umfänglicheren Schrift A. v. Fischeis über dasselbe Thema zu vergleichen, um ^ie Weite des Blicks, die Unbefangenheit, die politische Einsicht des über den Ozean hinweg beobachtenden und dennoch von seiner Aufgabe ergriffenen, echten Historikers zu crmessen. Fischel urteilte aus der Enge seines mährischen Nationalitätenkampf-Schauplatzes. Hans Kohn hat, nach den USA entrückt, das Unpathos der Distanz gewonnen. Wenigstens dem Willen gemäß und zumeist auch in der Darstellung selbst verspüren wir keinen störenden Einfluß einer den Geschichtsschreiber überwältigenden Tendenz. Daß sie nicht völlig ausgemerzt worden ist, liegt an einer, im allzu knappen Einleitungskapitcl bemerkbaren Hast, zur Schilderung der Zeit ab 1850 vorzudringen. So hat sich Kohn den hergebrachten Meinungen angeschlossen und damit zwei Irrtümer übernommen: den einen, daß der Panslawismus erst von Herder und der deutschen Romantik entscheidend angeregt worden sei, den andern, der mit dem vorigen in engstem Zusammenhang steht, daß der Kroate Juraj Krizanic als Vorläufer des Panslawismus sozusagen allein auf weiter Flur gewesen sei. In Wirklichkeit hat es einen „panslavisme avant la lettre“ schon im ausgehenden Mittelalter gegeben; er war eine politische Kraft und eine, nur des Namens entbehrende Idee, lange bevor von pangermanischem oder panlateinischem Gemeinschaftsgefühl die Rede sein konnte. Und zwar deshalb, weil die slawischen Sprachen, je früher, um so stärker, einander weit mehr ähnlich waren als die romanischen oder die germanischen, vor allem aber, weil sich der Ueber-gang von einem ins andere slawische Idiom beinahe unmerklich vollzog. Man konnte vom Isonzo bis' nahe an Byzanz-Istanbul und vom Sorbenland bis ins großrussische Gebiet wandern, ohne je eine scharfe Zäsur zu empfinden. Man glitt vom Slowenischen ins Kroatische, in die dalmatinischen Dialekte, ins Serbische, ins Mazedonische, ins Bulgarische hinüber, vom böhmischen ins mährische Tschechisch, ins Slowakische, in die polnischen Mundarten der Krakauer oder der Göralen, bzw. ins Wasserpolackische, vom Sorbischen hier ins Tschechische, dort ins Polnische, und über das Weiß-russische, das Westukrainische, ins Ostukrainische, in Großrussische. Es war nicht so beschaffen wie etwa an der deutsch-französischen Sprachgrenze oder wie, um ein besonders überzeugendes Gegenstück zu nehmen, an der deutsch-dänischen. Diese slawische Gemein s a m k e i t und ihre Kontinuität im Raum hat zwar nie zur Gemein s c h a f t geführt, noch gar zur Einheit; sie erwies sich aber oft genug als politische Kraft und als wichtiger kultureller Faktor. War es nicht Panslawismus, der zum Beispiel im

15. Jahrhundert Tschechen und Polen einander näherte und sie noch im folgenden Säkulum miteinander verband? Es verlohnt sich, die Geschichte des Hussitentums daraufhin zu untersuchen und die allslawischen Tendenzen im Jagellonenreich zu erforschen. Später wurden diese gegen die Habsburger in Polen ausgespielt. Zu Unrecht wird ferner übersehen, welche Bedeutung das Gefühl slawischer Verwandtschaft für die Nachbarschaft zwischen Moskau-Rußland und Polen besaß. Sowohl die wiederholten polnischen Thronkandidaturen der Rjurykiden als auch die gleichermaßen gescheiterten Bemühungen der Warschauer Wasa um eine Personalunion zwischen ihrem polnisch-litauischen und dem mosko-witischen Staat waren von panslawistischer Propaganda begleitet. Deren Echo und Niederschlag ist in der polnischen, in der tschechischen und in der kroatischen, speziell der Ragusaner Literatur de,s

16. und 17. Jahrhunderts zu finden. Es ist schade, daß Professor Kohn alle diese Dinge und hundert andere aus der Zeit vor Herder, Kollär und Safafik unerwähnt läßt. So springt die Idee des Panslawismus fertig und gewappnet, aus den Häuptern dieser Drei, wie Pallas Athene aus dem des Zeus. Doch nun halten wir bei der Geschichte dieser Idee als wirkender Bewegung seit dem neuerlichen Aufbruch in der Slowakei. Und von da an ist alles meisterhaft, glänzend gelungen.

Kohn unterscheidet sehr mit Recht eine erste Periode, die mit dem Prager Kongreß von 1848 und dessen unmittelbaren Nachwehen endet. Die Westslawen führen, der Austroslawismus zeigt sich als politischer Niederschlag philosophischer, literarischer und historischer Erwägungen. Gelehrte, voran Sprachwissenschaftler, und Dichter führen. Wenn überhaupt von einem staatlichen Mittelpunkt aus, dann wird der Panslawismus von Wien her gefördert. In Rußland neigen ihm nur die westwärts schauenden liberalen Sphären zu. Das ändert sich afsbald. In der zweiten Periode, die ihren Höhepunkt im Moskauer Kongreß von 1867 und in den Tagen des Russisch-Türkischen Krieges von 1877/78 erreicht, verwandelt sich der Panslawismus in einen von messia-nistischen Gedanken getragenen russischen Imperialismus, der im Dienste des Zarentums steht und der dafür über den Machtapparat eines militärischen Weltreichs . verfügt. Die orthodoxe Kirche schaltet sich ein und gibt der ursprünglich entweder dem Katholizismus oder dem Protestantismus adäquaten Strömung einen ausgesprochen antirömischen Charakter. Die westeuropäischen Einflüsse versiegen; den deutschen gegenüber, die man in der früheren Epoche bereitwillig und freundlich akzeptiert hatte, bekundet man offene Feindseligkeit, und diese wendet sich im Politischen vordringlich gegen die Habsburgermonarchie wie gegen die katholischen, westlich gebliebenen Polen als die Verräter am Slawentum.

Zuletzt tritt die Bewegung in ein drittes Stadium. Sic löst sich aus den konservativen wie vordem aus den liberalen Bindungen, und sie verknüpft sich mit der Revolution, mit dem Umsturz auf sozialem Gebiet. Das ist anfangs noch nicht deutlich. Der erste Weltkrieg, wesenhaft mitverursacht durch pan-slawistische Bestrebungen im Sinne der vorangegangenen Epoche, bringt in Rußland einen Internationalismus ans Ruder, der für Rassenmystik und für Messianismus nichts übrig zu haben scheint. Doch der allslawische Geist schlummert nur und er herrscht von Amts wegen in einigen Sukzessionsstaaten der in seinem Namen . zerstörten Donaumonarchie: in der Tschechoslowakei und in Jugoslawien, weniger in Polen. Als sich die Vorboten eines neuen Weltkrieges zeigten, begann sich der Panslawismus auch in der UdSSR wieder zu regen. Stalins Anruf der „grand ancetres“. der Umschwung in der offiziellen Geschichtsauffassung — die Abkehr von Pokrovskijs Verleugnen der russischen Vergangenheit zum die Zaren miteinschlicßenden Patriotismus —, der Ausgleich mit der orthodoxen Kirche, die sich nun dem Sowjetregime zur Verfügung stellte: das alles, was in den Jahren vor dem

Angriff Hitlers auf die Sowjetunion und hernach während'der „Otecestvennaja Vojna“ geschah, jenes zweiten „Vaterländischen Krieges“ gegen einen fremden Eindringling, es mußte die allslawischen Gefühle wachrufen. Die Moskauer Machthaber appellierten an sie, um die beiden anderen Leitideen zu unterstützen, in deren Namen sie die sowjetische Oberherrschaft über den gesamten europäischen Osten errichteten: den Kommunismus und das Ostchristentum. Auf diesen drei Säulen erhob sich nun das großartige Gebäude, das zu schaffen der Traum der Schwärmer, der Poeten und der Staatsmänner gewesen war. Wie Puschkin es begehrte, ergossen sich die slawischen Flüsse in den russischen Strom. Zugleich mit Marx, Engels und Stalin triumphierten,

noch im Grabe, Chomjakov, K'iieevskij, Aksakov, Danilevskij. Allein gerade im Moment, da er seine herrlichsten Siege feierte, da er nicht nur die Sprachverwandten in seine Machtsphäre einbezog, sondern auch Rumänien, Albanien und sogar das turanische Ungarn, da enthüllte sich die innere Schwäche eines beim Verlassen der Studierstubc und des elfenbeinernen Dichtertums, bei der Berührung mit der freien Luft in Staub zerfallenden Idols.

Der Panslawismus war auf einer falschen Grundvoraussetzung aufgebaut, daß nämlich die Sprachgemeinschaft das stärkste Band zwischen den Menschen, zwischen den Nationen darstelle. Es bestätigte sich, daß kulturelle Verbundenheit, die sich auf den mannigfachsten Sektoren äußert, nachdrücklicher wirkt als Uebercinstiinmung vieler Wortwurzeln und grammatikalischer Regeln. Polen und Madjaren waren und sind einander näher denn Polen und Russen. Die Wesensart, der dinarisch-niittelmeeriscben Jugoslawen trennt diesem, yolk von den ostisch-mongolischen. Russen. Die während des entscheidenden 19. Jahrhunderts auseinanderstrebende soziale Struktur der Polen, Madjaren und Kroaten einerseits, der Tschechen, der Bulgaren und Serben anderseits, macht sich geltend. Auch unter der dünnen gemeinsamen Decke der volksdemokratischen Gesellschaftsordnung und der marxistisch-leninistischen Ideologie. Der Panslawismus hat nur dort seinen Platz behauptet, wo er jetzt mit der Staatsräson und dem eigenen- nationalen Hegemonenwillcn zusammenfällt, also in der Sowjetunion und bei Völkern, die eine Abhängigkeit vom großen Rußland als Schutz vor ihnen weniger erträglichen, anderen Abhängigkeiten begrüßen, vornehmlich bei Tschechen und Bulgaren Das alles mit Deutlichkeit herausgearbeitet und seinem Bericht eine noch in der vortrefflichen UeberSetzung sehr ansprechende Form geliehen SU haben, dafür gebührt dem Verfasser Dank und besondere Anerkennung.

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