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Digital In Arbeit

Der entmythisierte Volkerkerker

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Drei jugoslawische Universitatsprofesso- ren haben in gemeinsamer Arbeit, an der dem in Laibach (Ljubljana) wirkenden Franz Zwitter der Lowenanteil zukommt, ein Werk zustande gebracht, das a-uf das angenehmste fiberrascht und hohe Aner- kennung verdient. Nicht als ob es frei von Schlacken ware und als ob wir alien seinen Thesen beipflichten mfiBten; wir werden mancherlei Vorbehalte und Erganzun- gen anzumelden haben, auswahlsweise auch in dieser Anzeige. Doch die sehr ernst zu nehmende Darstellung eines heiklen The- mas unterscheidet sich wohltuend von Geschichtsklitterungen, die wir aus den meisten Volksdemokratien empfangen. In einem ruhigen, sachlichen Ton gehalten, frei von dem schon in der Form ab- stobenden, abgeklapperten, zornigen Ge- stammel eines widerwartigen Jargons, der jedoch fiir die ieweils zu beweihrauchern- den Helden des eigenen Lagers wenig fiberzeugende hymnische Akzente findet, untermauert durch eine solide Kenntnis der gesamten Literatur in slowenischer, kroatischer, serbischer, deutscher, italieni- scher, franzosischer, englischer, russischer, madjarischer (leider nicht in polnischer und rumanischer) Sprache, bemfiht sich diese gescheite und saubere Ubersicht, das Wesentliche an Fakten zu berichten und diese in einem wahrscheinlichen Kau- salzusammenhang zu zeigen. Nichts von den so fiberflfissigen wie unabdingbaren Bezugnahmen auf Marx. Engels, Lenin, keine schimpfenden Ausfiille auf Ausbeu- ter, Feudale, Pfaffen und ahnliche Volks- feinde. Dabei sind wir nie im Zweifel, daB die Verfasser erstens slowenische, sfid-

slawische Patrioten, zweitens, nun ja, Kommunisten sind; allerdings Historiker, echte Wissenschaftler dazu und, wenn sie ans Forschen wie ans Erzahlen schreiten, vor allem.

Das Endergebnis der gewissenhaften Untersuchung liefie sich etwa so zusam- menfassen: Die Habsburgermonarchie ist organisch erwachsen. Sie wurde durch die gemeinsame Dynastie zusammengehalten, die sich dabei auf vier Eckpfeiler stfitzte: Grundadel. Klerus, Heer und Beamte. Widerspruch, der sich anfanglich vieler- orts im Adel regte, verebbte. Bfirger und Bauern nahmen alhnahlich das Donaureich als natfirliche Gegebenheit hin. Das wurde anders. als sich die herrschenden Ideen, von Westen und vom Norden her, wan- delten und den Legitimismus, den tragen- den Unterbau der Monarchia Habsburgica, erschiitterten. Nun sah nur noch ein Teil des Adels und der Geistlichkeit die Erb- herrscher als gottgegebene Obrigkeit an, der man unbedingte Treue schuldete; ihnen gesellten sich Offiziere, die des Kaisers Rock trugen, und Beamte, die sein Brot afien. Ein grofier Teil der durch Ge- burt oder Weihe Bevorrechteten, dann die Intellektuellen, das Biirgertum und zuletzt die Bauern samt dem sich entwickelnden Proletariat wurden grundsatzlich zum Feind des Vielvolkerstaates und zum Trager irredentistischer Gedanken. Wenn trotz- dem, wie die Autoren dieses Buches mit Fug feststellen, bis zum Jahre 1914 un- aufhorlich vom Zerfall Osterreich-Ungarns gesprochen, doch kein wirksamer Versuch unternommen wurde, ihn von innen her gewaltsam zu betreiben, so deshalb, weil die Mehrheit der Bevolkerung und ihrer ffihrenden Schichten das aus anderen Zei- ten in die Gegenwart hineinragende Ge- bilde als geringeres libel gegeniiber sonst drohenden Gefahren fiir die Sonderinter- essen der einzelnen Nationalitaten betrach- tete, oder weil sie sogar die bestehenden Zustande als Mittel zu Zwecken ihres sacro egoismo ansahen. Die Verfasser be- kennen es zwar nicht mit klaren Worten, doch sie geben indirekt zu verstehen, dafi ein rechtzeitiger Umbau der Monarchic im foderalistischen Sinne deren Dasein wohl auf lange gerettet hatte. Dabei unterlauft ihnen der unseres Erachtens einzige wichtige Irrtum: Sie meinen, derlei sei deshalb unmoglich gewesen, weil das Habsburgerreich auf einer mit dem Foderalismus unvereinbaren Kernidee beruht habe, der legitimistischen, als dem Gottes- gnadentum und der Herrschersouveranitat als Ausgangspunkt jeglicher Gewalt, wahrend der Foderalismus die Volkssouverani- tat zur Voraussetzung habe. Die berufensten Vertreter der bis 1918 giiltigen Ordnung, Franz Joseph wie Franz Ferdinand, hatten das erkannt: und der Foderalismus „n’a jamais ete 1’idee de ceux qui etaient au pouvoir" (S. 147). Beides ist falsch. Foderalismus und monarchische, vor allem aber konservative Staatsauffassung, haben nicht nur sich miteinander gut vertragen, sondern sie waren geradezu fiireinander ge- schaffen. Das beweist fur das eine der Blick auf die deutsche, auf die polnische und auf die belgische Geschichte, fur das andere die Riickschau auf die schweize- rische, auf die niederlandische und auf die friihgermanische Vergangenheit. Der Zen- tralismus, die Gleichschaltung dagegen sind in neuerer Zeit am nachdrucklichsten durch die „Republique une et indivisible" verfochten worden, sodann durch die demokratischen Achtundvierziger in Deutschland und durch die Schopfer des italienischen Einheitsstaates.

Nein, die Habsburgermonarchie ist vor allem daran zugrunde gegangen, dafi ihre dynastischen Bande in einer Zeit, die von Erbherrschern nichts und uberhaupt von vererbten Rechten wenig wissen wollte, nicht mehr hineinpafite und dafi ihr aus versiegenden Quellen gespeister Konigs- gedanke — Kaisergedanke des Miteinander mehrerer, fur sich allein schwacher, gemeinsam aber sehr starker Volker — noch nicht in den zukunfttrachtigen, auf ver- wandelter, ideologischer Grundlage ruhen- den, einer weltanschaulich-geopolitisch- wirtschaftlich bestatigten Federation umge- formt worden war. So ist eine gewaltige und nach schwerer Krise dennoch lebens- kraftige Idee durch eine bereits im Ab- sinken begriffene, durch die des Ein- nationenstaates des neunzehnten Jahrhun- derts, iiberwunden worden.

Nachdem wir unseren Haupteinwand vorgebracht haben, seien noch schnell einige weitere Punkte beruhrt, in denen wir mit den geschatzten jugoslawischen Gelehrten nicht iibereinstimmen, oder zu denen wir Erganzungen anzutnelden haben. Erstens, wir vermissen ein systematisches Herausheben der bedeutenden Rolle, die bei der Aushohlung und bei der schliefi- lichen Zerstdrung der Habsburgermonarchie antiklerikale Effekte und die Tatigkeit von Geheimgesellschaften gespielt haben. Dieses kitzlige, von den Geschichtsschreibern meist im Bogen umgangene Moment ist aber bei einer Darstellung der Nationali- tatenprobleme in der Habsburgermonarchie unausklammerbar. Das Junge Europa, die Carbonari, der Grand Orient im Westen, die Schwarze und die Weifie Hand, die Omladina, die Mafia — von welchen bei- den kursorisch, doch zuwenig gehandelt wird, sie haben ihren wesentlichen Anted daran, dafi die von uns dargelegten Anachronismen, die echten und die ver- meintlichen, zur vollen Auswirkung ge- langten. Zweitens, auf die Tatigkeit der fremden staatlichen Agenten, des russi- schen, italienischen, serbischen Geheitn- dienstes, von Organisationen, wie des Alldeutschen Verbandes, ware viel ein- dringlicher hinzuweisen gewesen, als das seitens Professor Zwitters und seiner Kollegen geschehen ist. Drittens, Starke und Reichweite der einzelnen nationalen Bewegungen werden allzu sehr vom Stand- ort des linksgerichteten Intellektuellen aus nicht nur bewertet, sondern auch zur Basis rfickschauender politischer Statistiken ge- macht. Viertens, wir meinen, dafi die den einzelnen Perioden gewidmeten Kapitel in ihrem Umfang nicht immer der Bedeutung der in ihnen geschilderten Zeitabschnitte entsprechen. Die ..Stabilisation relative", zwischen 1871 und 1905, ist mit funfzehn Seiten Text allzu stiefmiitterlich bedacht. In diese Periode, die wahrend der Ara Taaffe die Probe auf das Exempel einer deutsch-slawischen Koalition zeigte, hat es Episoden wie die Badenischen Sprachver- ordnungen gegeben, denen Sidak — oder Zwitter’ — nicht die gebiihrende Beach- tung gewidmet haben. Das kiirzlich er- schienene Buch von Sutter hat dargetan, welche entscheidende Schlusselposition den damaligen Ereignissen zukam. Ein Letztes an Vorbehalten: das Franzosisch des Tex- tes ist wohl besser als sonst in ostlichen Publikationen, doch noch immer weit ent- fernt von unantastbarer Korrektheit, ge- schweige von hoheren literarischen Aspi- rationen. Stellenweise mufi man sich die Satze ins Slowenische oder Serbokroatische, wenn nicht gar ins Deutsche ruckuber- setzen, um sie vollig zu verstehen. Es wimmelt von Wiederholungen, stilistischen Ungeschicklichkeiten und unfranzosischen Satzstellungen, so von Verstofien gegen die nur ausnahmsweise durchbrechbare eiserne Ordnung des franzosischen Satzes, in der ein Satzgegenstand stets der Satzaussage vorangeht und ihr moglichst nahebleiben soil. Mitunter sind Worte in einem irrigen Sinn gebraucht, etwa (S. 48): ..constitution valable" statt „en vigueur" oder „langue usuelle" statt „langue vehiculaire". Die dem Bande beigegebenen bibliographischen Anmerkungen — leider fehlt eine alpha- betische Gesamtbficherkunde — ist gar dankenswert. Sie riickt viele, meist in der deutschsprachigen oder in der westlichen Literatur kaum benutzten Veroffent- lichungen slawischer und ungarischer Ge- lehrter ins Blickfeld der Leser; sie sichtet kritisch, sundigt aber durch volliges tlber- gehen der polnischen und fast volliges der rumanischen Werke.

Zur Literatur uber die Tschechen miifi- ten Erganzungen vorgenommen werden. Beispielsweise seien etwa als vermifit Pe- kars so gehaltvoller ..Frantisek Josef", Munchs „B6hmische Tragddie" genannt. Von allgemeinen Werken ware vielleicht

Bezug auf den Sammelband Spectrum Austriae, auf Kolmers „Parlament und Verfassung", auf Cortis Franz-Joseph- Biographie und — zur Korrektur des zwar ohne Gehassigkeit, doch wenig zutreffen- den Bildes des Monarchen — ferner noch auf die Kaiserbriefe an Erzherzogin Sophie und an Frau Schratt zu nehmen.

Ehe ich diese, zu-gleich — fur die Re- daktion und wohl auch fur die Leser — allzu lange, doch fiir den Rezensenten, der nun noch vieles zum Lob des stoffprallen, ausgezeichneten Buches sagen mochte, allzu kurze Anzeige beende, sei nachdrucklich betont, dafi wir die Leistung der Professo- ren Zwitter, Sidak und Bogdanov durchaus zu wiirdigen wissen, dafi wir sie als einen sehr wertvollen Beitrag zur neuen osterreichischen und gesamt-donaulandischen Geschichte begrfifien und dafi die Kritik an der vortrefflichen Monographic nicht zuletzt das groBe, ihr geschuldete Inter- esse bezeigen soli, das ihr geziemt.

Universitatsprofessor

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