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Der größere Hintergrund

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Vor sechzig Jahren, im Jahre 1895, wurde der Verein für Volkskunde in Wien gegründet. Zwei Kustoden der Ethnographischen Abteilung des Naturhistorischen Museums, Michael H a-b e r 1 a n d t und Wilhelm Hein, schufen aus ihrem kleinen Freundeskreis heraus einen Verein, der sich die Erforschung der Volkskultur der Völker der Donaumonarchie zum Ziele setzte. Die beiden Männer waren aus dem Kreis der Anthropologischen Gesellschaft in Wien hervorgegangen, der die frühe Volkskunde unendlich viel zu verdanken hat. Sie standen nahezu ohne Verbindungen zu den älteren Bestrebungen auf österreichischem Boden, die aus Romantik und Biedermeier herüberreichten und beispielsweise in den Beiträgen zum Kronprinzenwerk, der „Oesterreichisch-Ungarischen Monarchie in Wort und Bild“ noch einen bedeutenden Niederschlag gefunden hatten. Ihr geistiger Nährboden war zunächst eher die Ethnographie, die sie auf die Völker der Monarchie anzuwenden berufen waren. Die lebendige Gegenwart altertümlichen Volkslebens von Galizien und der Bukowina bis nach Dalmatien reizte das sammlerische Können der beiden nicht nur wissenschaftlich, sondern auch künstlerisch hoch interessierten Männer. Michael Haberlandt hatte eine starke ästhe- tische Ader, die ihn auch sein kleines philosophisches Werk „Die Welt als Schönheit“ schreiben ließ. Wilhelm Hein wieder war der Bruder von Alois Raimund Hein, dessen Name heute noch durch seine große Adalbert-Stifter-Biographie bekannt ist, die erst 1952 eine schöne Neuauflage fand. Alois Raimund Hain hat sich aber auch besonders mit der Völkerkunst befaßt, eine Haüptleistung waren seine „Bildenden Künste bei den Dayaks auf Borneo“ von 1890. So war es kein Wunder, daß diese junge österreichische Volkskunde zu großen Teilen eine Volkskunstforschung wurde.

In Berlin hatte sich ein Jahrzehnt früher der deutsche Verein für Volkskunde gebildet. Seine Hauptleistung war die allmähliche Organisation der wissenschaftlichen Volkskunde, besonders um das Zentrum der ersten modernen Volkskunde-Zeitschrift, die Karl Weinhold, ein Enkelschüler Grimms und Lachmanns, gründete. Da trafen die germanistischen Anstöße der Volkskunde also mit den anthropologisch-ethnographischen zusammen, wie sie etwa Rudolf Virchow verkörperte. In Wien traten zu den anthropologisch-ethnographischen eher die prähistorischen, wie sie Matthäus Much und Moritz Hoernes, und die kunstwissenschaftlichen, wie sie Alois Riegl vertraten. Das ergab ein sehr angeregtes Zentrum, die Sammelergebnisse von Haberlandt und Hein kamen stets vor einem sehr interessierten Forum zur Diskussion. Für diese Sammeltätigkeit gab es kaum schon rechte Vorbilder. Die großen Sammler aus dem Kaiserhaus waren freilich Interessenten. Nicht zuletzt der Erzherzog-Thronfolger Franz Ferdinand, der sich eine Zeitlang persönlich mit dem Plan der Gründung eines Volkskundemuseums auf einem Schloß in den Alpen trug. Auch die Hocharistokratie war stark interessiert. Graf Franz Harrach war Präsident des Vereines, der regierende Fürst Franz von und zu Liechtenstein einer seiner Hauptförderer. Aber da handelte es sich meist um Ankäufer aus dem Antiquitätenhandel.

Wilhelm Hein ging zuerst den Weg über die kleineren Sammler im Lande. Er fand die Verbindung zu den sammlerisch begabten Menschen in Salzburg und Tirol. So kam eine Marie Andree-Eysn an den Verein heran, ein Hugo von Preen, der Innviertier Maler und manche andere. Das waren Menschen, die sich der Beobachtung des bäuerlichen Menschen verschrieben hatten und sein Sachgut und seine Volkskunst stärker aus der Nähe, im täglichen wie im festlichen Leben sahen und aufzeichneten. Hatte Marie Eysn, die spätere Gattin des großen Ethnographen Richard Andree, die Perchten in der Gastein aufgezeichnet, so ging Wilhelm Hein den verschiedenen Faschingsläufern im Inntal nach, den Huttlern und Zottlern und wie sie alle heißen. Dieser Intensivierung in den Alpenländern stellte Michael Haberlandt eine großartige Extensivierung gegenüber, die allmählich in besonderem Ausmaß die slawischen Länder zu erfassen versuchte. Man kann das am besten an den Beiträgen der bereits 1896 gegründeten „Zeitschrift für österreichische Volkskunde“ verfolgen. Schon wenige Jahre später klagen die Verfasser der „Deutsch-Oesterreichischen Literaturgeschichte“, daß in Haberlandts Zeitschrift, wie man sie allgemein nannte und zitierte, die deutschen Länder der Monarchie zu kurz kämen. Die 1899 von Josef Pommer gegründete Zeitschrift „Das deutsche Volkslied“ erwuchs gerade aus diesem Gegensatz zu der großen Ergänzung der Volkskunde-Zeitschrift, die wir nicht missen möchten.

Wir möchten aber auch keinen der Beiträge in Haberlandts Zeitschrift missen, welche von der Erschließung der Sudeten-, Karpaten- und Balkanländer Zeugnis ablegen. Die Länder der böhmischen Krone, die an sich durch eine stattliche eigene Literatur Geltung besaßen, kamen hier besonders mit ihren vergessenen und versteckten Gebieten zu Wort. Der Böhmerwald wie das Egerland und das Kuhländchen wurden von ausgezeichneten Sammlern bearbeitet. Namen wie Josef Blau, Alois John und Alexander Hausotter sprechen für viele andere. Die Gründung des Tschechoslowakischen Museums in Prag enthob die Wiener Sammler zum Teil der Verpflichtung, für die Kernvölker im Norden selbst zu sorgen. Dennoch ergaben sich in den Vereinssammlungen stattliche Bestände, die wieder durch den Volksbesitz aus unbekannteren Gegenden besonders bereichert wurden, beispielsweise von den Wallachen um Wallachisch-Meseritsch, wo der Religionslehrer Eduard Domluvil sammelte. Die Länder der Stephanskrone waren den Wiener Sammlern im wesentlichen verschlossen. In Budapest hatte Johannes Janko die Ethnographische Abteilung des Ungarischen Nationalmuseums aufgebaut, welche also bereits organisierterweise das leistete, was sich die Schöpfer des Vereines erst als Ziel für die „im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“ gesetzt hatten. Nördlich des Kar-patenbogens freilich hatten sie freie Hand. Und aus den gewaltigen Weiten Galiziens und Lodomeriens, wie man damals sagte, sandten einige dem Verein gewonnene Sammler bald wichtige Kollektionen nach Wien. Von ihnen ist besonders der Mittelschulprofessor Ludwig Mlynek in Tarnow zu erwähnen, dessen Veröffentlichungen in den ersten zehn Jahrgängen der Zeitschrift des Vereines grundlegend sind. Der Arzt Iwan Franko in Lemberg wieder bereiste das Bojkenland und widmete seine ganze stattliche Kollektion dem neuen Museum, das sich als Privatsammlung in den Räumen des Handelsmuseums, in der Börse, mühsam entfalten mußte.

Man hat in den letzten Jahren mitunter davon gesprochen, wie positiv das Verhältnis der Rumänen der alten Monarchie zu Oesterreich war. Wenn man die Vertreter des rumänischen Volkes einmal darnach beurteilen wird, soll man auch den Pfarrer Demeter Dan aus Straza in der Bukov/ina nicht vergessen. Seine Sammlungen bezeugen bis heute im Wiener Museum, wie diese Verbindungen segensreich sein konnten, seine Veröffentlichungen über den Volksglauben der Rumänen und Dutzende verwandter Themen, alle bei uns, in der Wiener Zeitschrift erschienen, bekunden das gleiche. Es wäre ungerecht, zu verschweigen, wie viele Mittelschulprofessoren und andere Vertreter der österreichischen Intelligenz, die in der Bukowina ihren Dienst taten, gleichfalls am Aufbau der Volkskunde dieses Landes Anteil hatten: Die Geschichte des Vereines für Volkskunde hat sie dankbar festgehalten.

Der Balkan muß in diesem Zusammenhang besonders betont werden. Das reiche Sammelgebiet begann besonders mit der Okkupation von Bosnien und der Herzegowina aktuell zu werden. Vorher hatte besonders Dalmatien und die Inselwelt gelockt, nicht zuletzt künstlerisch eingestellte Menschen, von denen besonders der Maler Ludwig Hans Fischer genannt werden muß. Für die neu erschlossenen Länder setzte sich Michael Haberlandt, der nach dem frühen Tod Heins den Verein, das Museum und die Zeitschrift praktisch allein führte, in ganz besonderem Ausmaß ein. Die Balkansammlung des Museums wuchs in diesen Jahren sehr stark an und sie hat sich auch weiterhin laufend vermehrt, so daß sie zu den besten gehört, die es überhaupt gibt. Leider bietet das heutige Museumsgebäude ja keinerlei Raum, diese volkskünstlerischen Kostbarkeiten aufzustellen. Der Verein hatte die letzten Vorkriegsjahre gut genutzt. Stifter und Wohltäter hatten immer wieder Mittel zur Verfügung gestellt. Es kam zwar zu keiner Uebernahme des Museums durch den Staat, aber ein Gebäude wurde ihm doch zur Verfügung gestellt, das schon dem Abbruch geweihte Gartenschloß Schönborn in der Laudongasse. Es kam der Krieg, und alles ging nur noch schleppend vor sich, mühsam konnte die Sammlung von der Börse in “die Josefstadt gebracht werden, und dann wurde eine gedrängt volle Aufstellung des Sammelgutes, das etwa 35.000 Objekte umfaßte, geschaffen, die mehr als dreißig Jahre halten mußte. Krieg, Nachkrieg, Inflation — es ist nicht notwendig, zu erzählen, was diese Notzeiten für den arm gewordenen Verein bedeuteten. Nur eines muß man sich besonders vor Augen halten: Es hatte sich um ein Museum des Vielvölkerstaates gehandelt, war aus dem Idealismus der besten Männer dieser vielen Völker entstanden und nun knapp nach seiner Fertigstellung eigentlich sinnlos geworden. Es dauerte Jahrzehnte, bis die Selbstbesinnung auf neue Ziele blicken ließ.

Aus den ästhetischen und politischen Zielsetzungen von einst sind längst rein wissenschaftliche geworden. Der Verein hat nach wie vor die gesamte Forschung auf seinem weiten Feld im Auge. Soweit es sich um seine Einrichtungen handelt, ist das neue Oesterreich gebieterisch in den Vordergrund getreten. Sowohl die Sammelmethoden von heute wie die Veröffentlichungen des Vereines und des Museums betreffen hauptsächlich das heutige Oesterreich. Aber der größere Hintergrund der alten Donaumonarchie ist nicht vergessen. Wir wissen, daß aus der Beschäftigung mit dem Riesenstoff, den dieses Erbe darstellt, die ganze vergleichende Volkskunde entstanden ist, wie sie Jahrzehnte hindurch als eigentliches Gebiet der Wiener Schule galt. Und die tägliche Beschäftigung mit den Dingen lehrt, daß keiner der Fäden zu den alten Forschungsgebieten wirklich ganz abgerissen ist. Im Gegenteil, nach Jahren scheinbarer Trennung haben so manche Nachbarn wenigstens in dieser Hinsicht wieder zu uns gefunden. Gerade deshalb wäre es Zeit, uns auch die Möglichkeit zu geben, zu zeigen, was wir bedeutet haben und wieder bedeuten könnten: Mit der Volkskunde Oesterreichs im Mittelpunkt sollte in jeder Hinsicht auch das ausgebreitet werden können, was die Sammlung und Forschung in Wien für die Volkskunde aller unserer Nachbarn geleistet hat. Wir stehen bei 50.000 Inventarnummern des Museums, von denen nicht die Hälfte gezeigt werden kann. Ein böser Zufall will es, daß gerade heuer, im 60. Bestandsjahr des Vereines, das Museumsgebäude überhaupt gesperrt werden mußte, weil sich starke Bauschäden gezeigt hatten. Wir sind also wieder so weit, daß wir nach neuen, besseren Unterbringungs- und Aufstellungsmöglichkeiten suchen müssen. Wir sagen das gerade heuer, in dem Jahr, in dem in Paris der Grundstein für das neue Musee des arts et traditions populaires gelegt wird: Wäre es nicht an der Zeit, in diesem Jubiläumsjahr für Wien das gleiche zu planen? Auch die Geschichte einer Wissenschaft verpflichtet.

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