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Beethoven im Tresor

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EINE RIESEN-BASSGEIGE, gut dreieinhalb Meter hoch, lehnt an der Wand, zwischen Regalen, alten Archivtischen und Komponistenporträts. Die Saiten haben die Stärke von Wäscheleinen, der Bogen wiegt schwer in der Hand. „Berlioz-Baß“ heißt das Monstrum, denn es war Hector Ber-lioz, der im Zuge kühnen orchestralen Experimentierens den Bau solch gewaltiger Instrumente anregte. Der Kontrabassist mußte auf einem hohen Sitz, wohl einer Art Bibliotheksleiter, Platz nehmen und beim Spiel mit einer eigens konstruierten mechanischen Vorrichtung die Saiten niederdrücken. Wenn er mit dem Bogen darüberstrich, erklang ein dumpfes, röchelndes Dröhnen, was wohl letzten Endes nicht den Erwartungen entsprach, die man sich von dieser neuartigen Orchesterstimme gemacht hatte. Darum blieb der Berlioz-Baß nur ein Versuch, gewissermaßen ein überdimensionales Bravourstück der Instrumentenmacherkunst. Ganz abgesehen von den Transportschwierigkeiten, für unsere heutigen transatlantischen Konzertreisen müßte man wahrscheinlich einen Lastensegler an den Clipper hängen, um so eine dicke Berta der Musik befördern zu können. Wie man hört, wurden insgesamt nur drei solcher Bässe gefertigt: einer befindet sich in Paris, der zweite soll, dem Vernehmen nach, in Berlin gewesen sein und der dritte fand seinen Weg nach Wien, wo er als Kurio-süm in der Sammlung der Gesellschaft der Musikfreunde aufbewahrt wird.

' DIESE SAMMLUNG, im zweiten Stock des „Goldenen Hauses“ untergebracht, ist zur Zeit in einer durchgreifenden Umgestaltung begriffen, organisatorische und räumliche Umstellung wurde nötig, damit auf dem gegebenen beschränkten Raum eine Neuordnung der reichen Bestände nach modernen wissenschaftlichen und ar-chivtechni.schen Gesichtspunkten erfolgen kann. Die Sammlung der Gesellschaft .gliedert ^ich in drei große Gruppen:

• Die Bibliothek mit etwa 13.000 Bänden.

• Das Archiv mit der Notensammlung von nahezu 53.700 Werken und etwa 3000 Autographen.

• Die Sammlung europäischer und außereuropäischer Musikinstrumente; sie sind allerdings größtenteils nicht im Musikvereinsgebäude, sondern in der Hofburg untergebracht.

Dazu kommen noch zahlreiche Bilder und Einzelobjekte, die im neuen Musealraum ihren Platz finden sollen.

Die Autographensammlung umfaßt unter anderem allein 1199 Beethoven-Handschriften und stellt in ihrer Gesamtheit eine in der Welt einzigartige

Dokumentation europäischen Musiklebens dar, wobei verständlicherweise die Wiener Klassik im weitesten Sinn dominiert. Wenn sich die Schränke der Gesellschaft der Musikfreunde öffnen, dann vermag man sozusagen in einem großen „Familienarchiv“ der Tonkunst zu blättern, denn sie alle, Komponisten wie Interpreten, bis herauf zu Richard Strauss, Gustav Mahler, Wilhelm Furtwängler und Herbert von Karajan, sahen in dem leuchtenden alten Haus auf dem Karlsplatz ihre künstlerische Heimat.

Generalsekretär Professor Gamsjä-ger beziffert den rein materiellen Schätzwert der Sammlung mit 200 bis 300 Millionen Schilling und man kann daher wohl ermessen, daß, nach den Worten von Präsident Hryntschak, schon ein Teil der Bestände wertmäßig ausreichen würde, um ein neues Musikvereinsgebäude samt kompletter Einrichtung zu erbauen. Allerdings, so fügt Präsident Hryntschak hinzu, ist die Nennung einer Summe illusorisch, da sich die Gesellschaft, so lange sie bestehen mag, prinzipiell von keinem der Objekte, und sei es auch das scheinbar geringfügigste, trennen würde.

FEUERSICHERE TRESORE wurden im Zuge der Neugestaltung der Sammlungen angeschafft, darin finden die Autographen ihren Platz. Einige der Schränke — sie sehen aus wie große Spinde aus Stahl — stehen bereits an Ort und Stelle. Jeder dieser Tresore ist wahrhaftig ein Thesaurus abendländischer Kultur. In den Fächern liegen Stapel schlichter Briefschaften, altertümliche Schriftzüge in brauner verblaßter Tinte auf vergilbtem Papier: ein Schreiben von Beethovens Hand, schwer leserlich, unregelmäßig, dicht Zeile um Zeile; einige Blätter aus dem Reisetagebuch der Nannerl Mozart, auf denen sie mit großer, bemühter Kinderschrift vermerkte, welche Stadtteile und Kirchen sie während ihres Londoner Aufenthaltes sah; von besonderem Interesse im Nestroy-Jahr: ein Brief des Wiener Aristophanes (wie man ihn so gerne nennt, im Jubiläumsjahr erst garl) „An die Comittee des großen Musikvereines“. Nestroy entschuldigt sich, daß er seinen Singpart krankheitshalber zurückschicke, gibt aber, zugleich die Versicherung, daß man bei den nächsten Gesellschaftskonzerten zuverlässig auf seine Mitwirkung rechnen könne. Offenbar gehörte er zu jener Zeit, 1819, als Bassist dem Singverein an.

Die kostbarsten Bestände der Autographensammlung hat die Nationalbank für die Dauer des Umbaues in ihre Obhut genommen. Im Musikverein will man „Kenner und Liebhaber“ nicht in Versuchung führen, denn: „Sammler haben keine Moral“, besagt ein Wort, das die Erfahrung prägte.

SCHON IN DEN ERSTEN JAHREN des Bestehens der Gesellschaft der Musikfreunde wurde der Aufbau einer Sammlung und einer Bibliothek als eines der vornehmsten Ziele betrachtet und in den Statuten festgelegt. 1815 bittet das Präsidium in einem Aufruf, „jeder Musikfreund möge der Gesellschaft über alle seltenen Musikwerke Nachricht geben, da am Sitz der Gesellschaft eine Bibliothek, ein Archiv und ein Museum etabliert werden solle, in denen alle diese hohen geistigen Werte für immerwährende Zeiten in Obhut genommen werden“.

In jenem optimistischen Wort „für immerwährende Zeiten“ dokumentiert sich der altösterreichische Glaube an den unabänderlichen Bestand der Dinge. (So erhielten zum Beispiel auch manche Regimenter der kaiserlichen

Armee ihren Regimentsnamen „für immerwährende Zeiten“.) Von Anfang an wurde ein /zweifacher Zweck verfolgt: Wissenschaftliche Bestrebungen verbariden . sich mit ideellen Beweggründen. Durch eifrige Sammeltätigkeit, durch großzügige Schenkungen und wertvolle Vermächtnisse war die Gesellschaft bald im Besitz eines stetig anwachsenden wissenschaftlichen Apparats.

Josef Ferdinand Sonnleithner, die Zentralgestalt in der Geschichte der Körperschaft, dieser Wiener bürgerliche Aristokrat und geniale Kunstfreund, dessen Schwester Grillparzers Mutter war, wandte der Bibliothek und der Musikaliensammlung seine besondere Aufmerksamkeit zu. Aus Liebe zur Sache kompilierte er mit unermüdlichem Fleiß musikwissenschaftliches Material aus den verschiedensten ihm erreichbaren Publikationen in handschriftlichen „Collectaneen“, die schließlich die ansehnliche Folge von 41 Bänden ergaben.

EINE WESENTLICHE BEREICHERUNG erfuhren die Sammlungen aus dem Nachlaß ihres Protektors Erzherzog Rudolf, Erzbischof von Olmütz. Der weltliche und kirchliche Fürst starb 18 31, seine Musikbibliothek hatte er der Gesellschaft der Musikfreunde vermacht. In neunzig schweren Kisten verpackt, wartete das kostbare Kulturgut in Kremsier auf die Beförderung nach Wien. Die Transportkosten waren beträchtlich, und die Musikfreunde, die eben für ihre neue Heimstatt in den Tuchlauben viel Geld ausgegeben hatten, scheuten sich vor der schweren Belastung des Budgets. Sie erwogen sogar, zugunsten der Kaiserlichen Bibliothek zu verzichten. Doch rascher Entschluß zur rechten Zeit brachte die erzherzogliche Sammlung in den Besitz der Gesellschaft. Ein großes rotes „R“ kennzeichnet die Rudolfinischen Bestände, deren Kernstück jene auf der ganzen Welt berühmt gewordene zweiundsechzig-bändige Beethoven-Gesamtausgabe ist, auf deren Titelseite der Meister mit eigener Hand den Vermerk gesetzt hatte: „Daß sämtliche Stücke von mir komponiert sind, bestätige ..ich, dpi-Wahrheit angemessen, mit riieirier Namensfertigung.“

Die Schubert-Sammlung stammt zu einem wesentlichen Teil aus dem Besitz Josef von Spauns, während Nikolaus von Dumba, eine der großen Persönlichkeiten der goldenen Epoche der Gesellschaft, die Originalpartitur der „Unvollendeten“ sicherte. Bis in die sechziger Jahre war sie nämlich von dem schrulligen Patron Anselm Hüttenbrenner, einem bescheidenen Komponisten aus dem Schubert-Kreis, im Wust seiner Bohemienbehausung in Andritz bei Graz verwahrt worden.

Brahms und der Bösendorfer (ein solches „der“ ist ja in Wien bekanntlich ein Ehrentitel) gehörten zum engsten „Familienkreis“ und bedachten die Sammlungen im Goldenen Haus auf dem Karlsplatz mit wertvollen Spenden. Aus Brahms Besitz stammt eines der eigenartigsten Dokumente der ganzen Musikgeschichte: zwei Blätter von symbolhafter Bedeutung. Beethoven hatte darauf ein Lied niedergeschrieben, es trägt den Titel „Ich liebe dich“. Auf der Rückseite finden sich einige Takte eines Andan-tino von Schuberts Hand, und Brahms schließlich hatte seinen Besitzvermerk hinzugesetzt.

DIE „SENSATIONELLSTE“ RELIQUIE in der Sammlung der Gesellschaft war Josef Haydns Schädel, der jahrzehntelang in einem ebenholzgerahmten Glaskästchen aufbewahrt wurde. Um die Zeit von Haydns Tod hatte die Gallsche Schädellehre viel von sich reden gemacht (der größte Teil der Schädel- und Büstensammlung des Dr. Gall befindet sich heute im Stadtmuseum Baden bei Wien), und so wurde das Kranium des Komponisten aus dem bescheidenen Grab auf dem Hundsturmer Friedhof geraubt. Man suchte die Genialität phreno-logisch zu ergründen. Nach mancherlei Wechselfällen kam der Schädel um die Jahrhundertwende als Vermächtnis in den Besitz der Gesellschaft der Musikfreunde. Er war das spektakulärste und in der Öffentlichkeit bekannteste Objekt, Sentiment und pseudowissenschaftliches Interesse umgaben das Hirngebein in der lyrageschmückten Vitrine mit einem fu-nebren Nimbus.

Aus Pietätsgründen ging die Gesellschaft ausnahmsweise von ihrem Grundsatz der Unveräußerlichkeit der Bestände ab und übergab Haydns Schädel, wie erinnerlich, vor einigen Jahren an die burgenländische Landesregierung. Im Rahmen einer gutgemeinten Feier wurde das Kra-nium schließlich in der Eisenstädter Bergkirche mit den Überresten des Tondichters vereinigt.

ALS BIBLIOTHEKARIN verwaltet eine Fachkraft das große Erbe und betreut die in- und ausländischen Studenten, die in einem provisorisch eingerichteten Lesesaal in alte Notenhandschriften und Archivalien Einsicht nehmen, die es eben nur hier, in diesen wunderbar altmodischen Räumen, mit den hohen Regalen und einfachen Tischen gibt. Die Sammlungen im Goldenen Haus haben Weltruf, tagtäglich kommt Post von Instituten aus ganz Europa und Übersee: Anfragen, Bitten um Zusendung von Photokopien

— in vielen Fällen ist die Gesellschaft der Musikfreunde die einzige Stelle, an die sifh Forscher wenden kqnnen. Heimat, deine SchätW v WKMKt

Josef Ferdinand Sonnleithner hatte sich als eminent musikkundiger Amateur in seinen Mußestunden dem Aufbau der Sammlungen gewidmet, sehr bald aber erkannte man in der Gesellschaft die Notwendigkeit, eine hauptamtlich tätige wissenschaftlich geschulte Kraft zu bestellen. Man hatte eine glückliche Hand bei der Wahl und fand immer fähige Archivare und Kustoden, denen ihre Arbeit, abseits der Öffentlichkeit, Lebensinhalt und Berufung war. Ihnen ist es zu danken, daß der weitaus überwiegende Teil der Bestände nicht nur registriert und eingeordnet, sondern auch wissenschaftlich bearbeitet und erschlossen wurde. Gustav Nottebohm, der sich als Beethoven-Forscher einen Namen machte, gehörte zu diesen in der Stille wirkenden Musikfreunden, und ebenso jener Mann mit dem typisch altösterreichischen Namen Eusebius Mandv-czewski, ein bedeutender Musikhistoriker, der von 1887 bis 1929 die Sammlungen leitete. Sein Bildnis hängt im Bibliothekszimmer: ein Gesicht aus der Welt von gestern, versonnene Augen, ein langer Vollbart und ein dunkles Hauskäppchen. wie es heute noch manche Antiquare in alten Läden der Inneren Stadt tragen. Heinrich Kralik schrieb über Mandy-czewski: „Er war eine Anima Candida, ein Eusebius-Naturell im Schumann-schen Sinn. Er war selbst ein Musealstück des Museums . .. und galt als Wahrzeichen der Gesellschaft.“

Wenige Schritte neben diesem Porträt öffnet sich das Fenster, an dem Brahms oft stand und zur Karlskirche hinüberblickte, die er so sehr liebte ...

SEIT JAHRZEHNTEN UNVERÄNDERT ist die Tafel über dem Eingang zur Direktion: nobel, aus schwarzem Glas mit goldener Inschrift „K. K. Gesellschaft der Musikfreunde“. In der Mitte der kaiserliche Doppeladler. Ein Musealstück? Nein, nur ein sinnfälliges Zeichen dafür, daß hier im Goldenen Haus die Strömungen vieler Zeiten in den Lauf der Gegenwart münden.

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