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Die Musiksammlungen Wiens

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Zu den wenig beachteten, aber sehr bedeutsamen Kultursdiätzen Wiens gehören seine Musiksammlungen, stille Denkmäler der Kunst. Vier große Bibliotheken ergänzen sidi, und jede trägt ein anderes Antlitz. Da ist zunächst einmal die hochfeudale, ehemals kaiserliche Hofbibliothek, die Nationalbibiliothek. Mauerreste, Berge von Ziegehdiutt, von Bomben vom Dadie heruntergeworfene Puttifiguren — und über der steilaufsteigenden Albrechtsrampe im Palais Friedrldi die Albsrtinasammlung und die Musikaliensammlung der Staatsbibliothek. Hier lebt inmitten einer großen Vergangenheit junges Leben: Mädchen-köpfe beugen sich über alte Folianten, junge Studenten lesen » eifrig in dickbäudiigcn Wälzern. Niemand ahnt den großen Friedhof des Wissens und der Kunst, der wenig Räume weiter ruht. In 27 Zimmern liegt hier das Kunstwissen und -können der Vergangenheit. Vor hundert Jahren nodi war diese Riesensammlung ein kleines kaiserliches Gebrauchsnotenarchiv in einem Mauerloch zwischen den Oratorien der Hofkirche. Der Musikgraf Dietrichstein, Beethovens Freund, entdeckte, daß hier in weißem Schweinsleder gebundene Büdier lagen, die Leopolds I. erste Musikbibliothek bedeuteten; er meldete es seinem Kaiser, dem Kaiser Josef, und der kam selbst, sah — und steckte wortkarg den Schlüssel des Kastens in seine Tasche. Er erkannte, was hier lag: nidits weniger als die bis 1600 zurückgehende Musiksammlung der Augsburger Fugger, die Kaiser Ferdinand nach Erlag von 1500 Gulden die Donau hinunter nach Wien bringen ließ. So kam dieser Grundstock der Musikaliensammlung wegen seines wichtigen Inhalts direkt in die Reichskanzlei und von dort — mit Dietrichsteins verändertem Wirkungskreis — ins Burgtheater und wanderte mit Dietrichstein, der dort auch nicht blieb, in den grandiosen Prunksaal dieser größten Herrlichkeit Wiens, wo sie aufgestellt wurde. Ein einfacher Skriptor der Hofbibliothek, namens Schmidt, begann auszugestalten, erwarb Manuskripte Haydns und Beethovens, den Nachlaß Salieris, des Feindes Mozarts, und viel Wertvolles mehr. Das Mauer-lochardiiv mit den kaiserlichen Büchern wurde durch ihn zur Bibliothek, und alles wäre gut und schön gewesen, wenn nicht ein wahrer Halbnarr von Aktenmensch, aus einseitiger Bibiliothekarperspektive heraus, plötzlich gefunden hätte, daß Musik ohne Poesie, wie er sagte, sinnloser Ballast wäre. So wanderte zentnerweise herrlichster Notenbesitz zum Feuerwerker in den Prater und als Makulatur in die Greißlereien. Von diesem Schlage erhohe sich die Bibliothek nur schwer. Beethoven- und Mozartmanuskripte, Werke aller Meister kamen hinzu, das Archiv des Peterskirchenchores wurde erworben, ein gewaltiges Plus ergab die Eingliederung des sogenannten „toten Repertoire“ des Hofopernarchivs: zahllose Opern. Ein Badener Theaterdirektor schenkte seine reiche Sammlung volkstümlicher Theatermusik, der Hugo-Wolf-Verein 35 Wolf-Manuskripte, alles übertraf aber die Eingliederung der Musikalien der kaiserlichen Fideikommiß-bibliothek und der grandiosen Estensi-schen Musikaliensammlung, das Supp£-Museum gab seine Bestände. Die Einrichtung der Pflichtexemplare brachte die gesamte Musikliteratur des Tages, Handschriften unserer Meister folgten im Laufe des Jahrhunderts, und allmählich wurde die Mauerlochsammlung zu einer Bibiliothek von Weltgeltung, die modernsten Charakter annahm, als 1928 das Photoarchiv gegründet wurde. Audi der Schreiber dieser Zeilen konnte sein Sdierflein beitragen, als er ein Archiv von Musikalien des Sdiönbrunner Liebhabertheaters in Schwertberg, Oberösterreich: auf einem Schlosse entdeckte und der Hofbibliothek 1907 verschaffte. Schließlich befand sich der Inhalt des Kaiser-Josef-Kastens 1931 in Gesellschaft von 35.COO Handschriften, 18.000 Musikbüchern, 60.000 Druckschriften und 54.000 Photokopien, eine gigantische Zahl von Musikalien, die eine Musikgeschichte der Welt in Schriften und Noten darstellt. Die Mauerlochsammlung war ein musikalisches Weltwunder geworden. Ein fast noch größeres Wunder war, daß die ins Friedrich-Palais einfallende Bombe wohl den Lesesaal und vier Räume zertrümmerte, um die Bücherbestände aber wohlwollend einen Umweg nahm, nur eine immense Staubschichte zurückließ und eine Riesenunordnung, welche den derzeitigen Leiter der Bibliothek zu einer wahren Sysi-phusarbeit zwingt, die er mit Ruhe und Geduld zu leisten hofft.

Die Musiksammlung der Wiener Stadtbibliothek hat ihr eigenes Gesicht. Sie spricht sozusagen Wiener Dialekt. Ihren besonderen Reiz hat diese Bibliothek, sie ist ein Urwiener Original, voll Witz und Bosheit, mit dem Sdiuß dazugehöriger billiger Rührung, denn vom Altwiener Pawlatschenlied bis zu Leopoldis gesammelten Werken ist alles da, was der Wiener schimpfend und spottend in Liedform zur jeweiligen Zeitgeschichte zu sagen hatte. Um diesen merkwürdigen Kern gruppiert sich in Stahlschränken die Handschriftensammlung unserer großen Miister. Außerdem gibt es nidit weniger als 27.000 Druckwerke, Erst 60 Jahre alt ist dieses Unikum einer Bibliothek. Ihr Elternhaus war das urtrockene Wiener Gemeindearchiv. Dort begraben lag die Musiksammlung, ein Asdienbrödel, bis sie durch Dumbas Spende von 250 Sdiubert-Handschriften plötzlich zur größten Sdiubert-Sammlung der Welt wurde. Wir finden hier die großen Wiener Meister vertreten, das Manuskript von „Die Weihe des Hauses“ von Beethoven, Skizzen zur Neunten Bruckners, eine Sammlung von Handschriften der Jugendwerke Hugo Wolfs, Originale von Strauß und Lanner, Musik zu Raimund und Nestroy, immer wieder aber Wien, Wien und seinen Kulturkreis. Es ist eine Viennensiabibliothek, die nichts außer acht läßt, was Wiens Musikgeschichte betrifft. Brahms, Richard Strauß mit der Schlagobershandschrift, die ganze Tragik der Opernversuche Schuberts liegt hier in Panzerschränken, eine ungedruckte und unbekannte Schubert-Oper, „Sakuntala“, schläft hier, und immer wieder „Wien, Wien, nur du allein“, die Volksmusik, lückenlos. Diese Bibliothek lacht und ist bei allem wissenschaftlich-folkloristischen Ernst fidel und. eigensinnig. Der Kustos hat seine liebe Not mit ihr, einmal ist sie in Kisten-form leibhaftig vor den Bomben ausgerissen. Eine wahre Panik des Wiener Liedes, der sich die Bruckner-, Beethoven- und Schubert-Manuskripte anschlössen. Mit einem Lastauto durchfuhr ihr Leiter halb Niederösterreich, verfolgte die Ausreißer bis in die Tauern und feierte im Grazer Landesmuseum ein freudiges Wiedersehen mit seinen wohlbehaltenen Pflegebefohlenen, die willig zurückkehrten, denn „Wien ist Wien“, sagte sich auch diese originelle Sammlung.

Über die Straße hinüber liegt eine Musikbibliothek anderer Art: die Bibliothek des musikwissenschaftlichen Instituts der Universität Wien. Sie ist die letzte Überlebende der mitteleuropäischen Universitätsmusikbibliotheken, alle anderen hat der Krieg unwiederbringlich zerstört, und es ist gar nicht abzusehen, welcher wissenschaftliche Sdiaden entstanden war:, hätte nicht der derzeitige Ordinarius für Musikgeschichte alles darangesetzt, seine Bibliothek zu retten. Von den 20.000 Fachschriften konnte alles geborgen werden. Nur die umfassende (reichhaltige) Schallplattensammlung wurde gestohlen und landete auf dem Schwarzen Markte der Musik, wo sie friedlich verkauft wird. Diese Bibliothek soigniertester Wissen-schaftlidikeit ist sozusagen eine Familienbibliothek aller mit Musikwissenschaft Beschäftigten, in der 70 Hörer, eine Hilfskraft und ein Professor am Baue der Musikwissenschaft arbeiten. Die Sammlung und-das Institut bestehen erst seit 1898 und besitzen doch schon Weltruf, basierend auf den weltbekannten Denkmälern der Tonkunst Adlers, einem wissenschaftlichen Werke von ungeheurem Umfang, das der derzeitige Leiter des Instituts nebst seinen umfangreichen Arbeiten im Rahmen der Akademie der Wissenschaften fortsetzt. Dieser vornehmen Bibliothek fehlt der üb-lidie Friedhofscharakter großer Bibliotheksmuseen.

Wieder anderer Art ist die B i b 1 i o t h e k der Gesellschaft der Musikfreunde, die Museumsdiarakter trägt. 1814 schenkte und vermachte der Sondershausener Lexikograph und Organist Gerber, besorgt um sein Lebenswerk, seine ganze ungeheure Bibliothek der Gesellschaft der Musikfreunde. Ein Jahr darauf veröffentlichte die Gesellschaft einen Aufruf um Spenden von Musikalien, der ein überraschendes Resultat brachte: Bis aus der Türkei kamen Spenden, von dort eine Sammlung türkischer Instrumente, der sich die historische Instrumentensammlung eines Linzer Domkapellmeisters anschloß. Gleichzeitig erschien eine Sammlung musikalischer Abhandlungen des Sammlers Sonnlcithner und, als größte Stiftung, die Kollektion von Autographen, die Erzherzog Rudolf der Gesellschaft vermachte. Das Standardwerk der Sammlung aber wurde die Spende der Musikbibliothek des Gelehrten KöchL der auf Grund dieser Sammlung sein berühmtes Köchl-Verzeichnis aller Mozart-Werke verfaßte. Auch schenkte er der Gesellschaft der Musikfreunde die Handschriften der Schubert-Symphonien. Immer mehr wurde 3er Kern des Ganzen die Instrumentensamm-'ung, die Hochinteressantes »nthält, während die Musikaliensammlung ausgesprochenen Archivdiarakter trägt und von allen Interessenten Wiens rege benützt wird. Die Sammlung besteht aus drei Teilen, einem Archiv mit 35.000 Musikalien, einer 8000 Stücke umfassenden Bücherreihe und dem Bestand des Museums, des . originellsten Teiles der Sammlung, der ihr den musealen Charakter sichert und die anderen Wiener Sammlungen trefflich ergänzt.

Außer diesen öffentlichen Bibliotheken gibt es noch schöne Privatsammlungen in Wien, die von ihren Besitzern eifersüchtig gehütet werden. Im ganzeh genommen bietet das musikalische Bibliothekswesen Wiens das Bild reidisten Kulturbesitzes und trägt dazu bei, unserem Staate das Gepräge einer musikalischen Großmacht zu geben, die trotz des Unterganges der Monarchie weiterbesteht und die kein Krieg uns nehmen konnte.

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