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Wer kennt schon Schubert und sein ganzes Werk?

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Am Brunnen vor dem Tore”, „Das Wandern ist des Müllers Lust” und die „Muntere Forelle”, möglich auch das „Heidenröslein”, diese Lieder weiß fast jedes Schulkind zu singen. In den 18 Jahren seines schöpferischen Wirkens aber hat Schubert an die 600 Lieder komponiert, in knapp zwei Dezennien seines Schaffens hat er sieben Messen, neun Symphonien, 80 Chorwerke, elf Ouvertüren, sieben Bühnenwerke, 30 Kammermusikwerke und 450 Klavierstücke geschrieben. Schuberts Arbeitseifer ist uns heute unfaßbar. Nach dem Zeugnis von Freunden komponierte er täglich von sechs Uhr morgens bis ein Uhr mittags und ließ sich von niemandem und durch nichts stören. Dabei entwickelte er ein enormes Arbeitstempo. 1815 entstanden an manchen Tagen fünf Lieder, es gab auch Tage, an denen ihm sieben, ja einmal sogar acht gelangen. Am 15. April 1815 etwa schrieb er sechs Lieder und vier Chöre nieder.

Diesem überwältigenden Reichtum seines Gesamtwerkes stehen erschütternde Tatsachen gegenüber: Zwischen der ersten Veröffentlichung seiner Kompositionen und seinem Tod gab es nur sieben Jahre; das einzige Konzert, das zu Lebzeiten Schuberts ausschließlich seinen Werken gewidmet war, fand am 28. März 1828, also acht Monate vor seinem Tod statt. Später haben sich insbesondere Liszt und Brahms um die Veröffentlichung und Aufführung seiner Kompositionen gekümmert.

Hermann Preys unschätzbares Verdienst ist es, in Hohenems sämtliche Werke Schuberts, auch alle Kompositionen aus seiner Jugendzeit - sein erstes Stück, eine Fantasie in G-Dur hat Schubert bereits mit 13 Jahren geschrieben - zur Aufführung zu bringen. Dabei ist zu bedenken, daß seit der ersten Gesamtausgabe der Werke Schuberts vom Verlag Breitkopf und Härtel, 1884-1897, viele Jahrzehnte vergangen sind. In dieser Zeit hat sich die Einschätzung und Bedeutung seines Werkes von Grund her gewandelt Seine Eigenart, vor allem seine Instrumentalmusik ist besser erkannt und ganz neu beurteilt worden. Wie kaum bei einem anderen Komponisten sind Werk und Persönlichkeit sowohl in den Aufführungsarten wie von der Lebensbeschreibung und der Kritik entstellt und verzerrt worden.

Die Forschung ist außer an seinem umfangreichen Werk naturgemäß an Detailfragen aus seinem Leben, seinen Krankheiten und seiner unmittelbaren Todesursache interessiert. Hier wird in verstärktem Maße nach ganz neuen Überlieferungen gesucht. Auch

Zeichnungen, Radierungen und Bilder tauchen auf, sodaß man sich heute, schon ein ziemlich genaues Bild von diesem so ungemein schöpferischen Genie machen kann. Ministerialrat Dr. Elfriede Müll hat im Bundespressedienst eine Dokumentation in Kurzform über Schubert herausgebracht, zum Gebrauch für die Presse im In- und Ausland.

Unbekannte Stücke und Lieder sind seit der ersten Gesamtausgabe wiedergefunden worden. So hat Prof. Christa Landon vor acht Jahren ein Blatt mit weiteren zehn Takten aus der „Unvollendeten” entdeckt. Aufschlußreich ist auch ein Fund von 50 Blättern mit Übungsstudien und Korrekturen von seinem weltbekannten Lehrer Simon Sechter. Sie datieren 14 Tage vor Schuberts Tod und sind ein Dokument des Selbstzweifels eines Genies. Solche Quellen geben starke Impulse zum Verständnis von Schuberts Persönlichkeit. Ein Brief an seinen Bruder Ferdinand, den die Forscherin erst kürzlich durch Zufall im Nachlaß des Kaisers Maximilian von Mexiko aufgestöbert hat, bezieht sich auf drei seiner Kirchenmusikwerke.

Frau Prof. Christa Landon ist dieser Täge bei einem Flugzeugabsturz tödlich verunglückt.

Der Wiener Kunst- und Musikschriftsteller Otto Erich Deutsch (1887-1967) hatte sich voll und ganz in den Dienst der Schubertforschung gestellt. In aufopferungsvollen Arbeiten hat er die Unterlagen einer umfassenden Dokumentenbiographie zusammengetragen und in einem thematischen, chronologischen Verzeichnis das Werk Schuberts erfaßt und überschaubar gemacht. Dieser Katalog ist 1951 in London erschienen und wird nun, zum 150. Todestag des Meisters, 1978 in deutscher Sprache herausgebracht. Otto Erich Deutsch ist die international anerkannte Autorität der Schubertforschung schlechthin. Sein „Deutsch-Verzeichnis” ist dem Köchelverzeichnis für Mozart gleichzustellen. Er gilt auch heute noch als der beste Kenner von Schuberts Leben und Werk.

Naturgemäß hat die Forschung durch das kommende Schubertjahr einen enormen Auftrieb erfahren. Das Erscheinen der neuen Gesamtausgabe aller Kompositionen Schuberts hat bereits begonnen: bisher sind 14 Bände und zwei Supplementbände erschienen. Er wird in etwa zwei bis drei Jahren abgeschlossen sein. Diese neue Schubert-Gesamtausgabe wird eine beträchtliche Zahl wiederentdeckter Werke berücksichtigen und kann auch ein erhebliches Quellenmaterial zugrunde legen. Die zahlreichen Autographen, Kopien von fremder Hand, Erstausgaben, gestatten einen Einblick in die Werkstatt des Meisters, noch mehr aber in seine musikalische Eigenart überhaupt. Sie vermitteln auch ein anschauliches Bild seiner Umwelt und seiner Zeit. Aus dieser Vielfalt der Dokumente können fruchtbare Anregungen auf den Vortragsstil seiner Lieder und seiner Instrumentalmusik ausgehen. Diese neue Schubertausgabe soll daher gleichermaßen der Wissenschaft und der Praxis dienen. Sie wird in acht Serien erscheinen und soll im ganzen etwa 60 Bände umfassen. Parallel zu den Notenbänden läuft eine Reihe kritischer Berichte, die die Quellenlage erörtern,

abweichende Lesarten und Korrekturen festhalten.

Von dem internationalen Schubert- kongreß, der von der österreichischen Gesellschaft für Musikwissenschaften von 4. bis 10. Juni 1978 veranstaltet wird, erwartet man sich noch weitere interessante Ergebnisse. Nicht nur die Österreicher und Deutschen beschäftigen sich sehr intensiv mit der Schubertforschung, auch die Engländer und Amerikaner zeigen großes Interesse an diesem Komponisten, während in Italien und Frankreich Schubert weniger bekannt ist. Allerdings zeigt man nun neuerdings in Paris größeres Interesse an seinen Instrumentalwerken.

Es ist bedauerlich, daß die Staatsoper aus Sparsamkeitsgründen die Aufführung einer Schubertoper vom Programm abgesetzt hat. Diese Aufführung wäre wohl für Wien eine pietätvolle Verpflichtung gewesen: Wo sonst als hier in seiner Heimatstadt sollte eines seiner Bühnenwerke zu Gehör gebracht werden! Dafür will Hermann Prey bei der Schubertiade 1978 in Hohenems das Singspiel „Die Freunde von Salamanca” und das

Fragment „Die Spiegel ritte r” unter Theodor Guschlbauer aufnehmen. Wohl finden in Wien im Schubertjahr zahlreiche Veranstaltungen, Konzerte und Schubertiaden vor allem zu den Festwochen und um den Todestag am 19. November statt; außerdem wird es eine wegen ihrer reichhaltigen Dokumente und Autographensammlung sehr interessante Ausstellung in der Wiener Stadtbibliothek geben.

Vor allem wird in verstärktem Maße nach neuen Quellen der Überlieferung gesucht. Otto Erich Deutsch hat einen ungeahnten Schatz an Quellen registriert, die Hinweise zu neuem Material geben, das bisher zuwenig beachtet worden ist. Eine große Frage beschäftigt die Experten: Man weiß, daß Schubert 1824 an einer großen Symphonie gearbeitet hat, man nennt sie heute die „Gmundner-Gasfeiner”. Doch bis heute wurde sie nicht gefunden. Die einen suchen und forschen nach ihr, die andere Gruppe ist überzeugt, daß es seine C-Dur-Symphonie war, zu der er schon damals Vorarbeiten geleistet hatte. Sicher ist, daß sie 1828 fertiggestellt wurde. Aber eine genaue Antwort auf diese Frage gibt es bis heute nicht.

Die Akademie der Wissenschaften gibt eben zum Anlaß des Schubertjah- res einen Band „Schubertstudien” heraus, der von Prof. Othmar Wessely und Hofrat Franz Grasberger zusammengestellt worden ist. Hier stehen vor allem stilgeschichtliche Fragen im Vordergrund. Der Schubert eigene persönliche Stil bedarf noch eingehender Studien, sagt Prof. Wessely, etwa wie stark der Einfluss der italienischen Musik, insbesondere der Oper, auf ihn gewirkt hat. Sein Spätstil, seine Symphonien sind in dieser Hinsicht noch wenig untersucht. Die Frage, inwieweit er der Klassik, dem Biedermeier oder der Romantik zuzuzählen ist, welche dieser Strömungen die entscheidende Dominante in seinem Stil ausgeübt hat, wird noch erörtert. Dabei muß man sich aber vorher im klaren darüber sein, ob der Spätstil Beethovens noch der Klassik oder bereits der Romantik zuzuschreiben ist.

Fragen der Zeitstile in der Musik sind ein sehr umstrittenes Thema. Da es keine eigene musikalische Benennung gibt, werden die Ausdrücke aus der Literatur und Kunstgeschichte übernommen. Prof. Wessely meint abschließend, daß die Schubertforschung heute bereits auf der gleichen Höhe wie die Haydns, Mozarts und Beethovens steht

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