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Lücken der Musikliteratur

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Die Musikwissenschaft hat in der ersten Zeit, in der sie sich za einer kultur- gesdiichtlidien Spezialdisziplin entwickelte, ein paar grundlegende Musterleistungen der Biograpliik bervorgebracht. Wir denken an das Mozart.Werk von Otto Jahn, das 1856 und in den folgenden Jahren erschienen ist und seit 1921 in durchgreifender Neugestaltung durcfy Hermann Abert vorliegt; dann an den 1858 begonnenen „Händel” Friedrich Chrysanders, an den „Beethoven” des Amerikaners Alexander Wheelods Thayer, der von 1866 an erschien und von Hugo Rie- mann und Hermann Deiters deutsch bearbeitet wurde, ferner an Philipp Spittas „Badi” (ab 1873) und an den von Hugo Botstiber vollendeten „Haydn” von Carl Ferdinand Pohl (1875). Entgegen dem ersten Eindruck liegt diesen Werken nicht so sehr die Auffassung der Musikgeschichte als einer „Heroengeochichte” zugrunde, als sie vielmehr die Darstellung auf eine breitere Basis stellen, Leben und Leistungen ihrer , Heiden” aus ihrer umfassend gesehenen Umwelt und aus ihren entwicklungsmäßigen Vorbedingungen und Voraussetzungen erstehen lassen. Gerade damit aber wurden der weiteren musikhistorischen Forschung Wege und Aufgaben gewiesen, die inzwischen zu einer fast unübersehbaren Fülle von Spezialarbeiten geführt haben, die in ihrer Summe das Material für eine Gesamtschau des Werdens unserer Tonkunst zu bilden hatten. Das Land zwischen den Gipfeln wurde erforscht, man beschäftigte sich eingehend mit den kleineren Vorläufern der großen Meister, deckte Entwicklungszüge der einzelnen Gattungen rousi- kalisdier Gestaltung auf, trieb also nicht Heroengeschichte, sondern Stilgeschichte. Und das mit vollem Recht und in Erfüllung einer unabweislichcn Notwendigkeit. Die Zeit dieser Einzelarbeiten bildet ein Stadium, das durdigemacht werden mußte und das unendlich viel und nicht immer äußerlich dankbare Arbeit umfaßt. Es kann heute, wenigstens was den Zeitraum anlangt, in dem jene Musik entstanden ist, die uns gegenwärtiger und lebendiger Besitz ist, im großen und ganzen als abgeschlossen gelten.

Es ist begreiflich, daß über all diesen Studien kaum noch Zeit und Kraft übrigblieb, die Reihe jener großen Biographien fortzusetzen, die allgemeine Stilgeschidite wieder in beispielhaften Heroendarstellungen sinngemäß gipfeln zu lassen. So ergibt sich die Tatsache, daß uns heute immer noch eine ganze Anzahl von Lebens- und Sdiaffens- sdiilderungen unserer großen Meister fehlen, die als vollwertige wissenschaftliche Instrumente gelten könnten, während eine oft unzulänglich populäre, mandimal auch stark feuilletonistisch gefärbte Musikerbiographik zweiten und dritten Ranges einen unverhältnismäßig breiten Raum einnimmt.

So erinnern wir in erster Linie daran, daß in unserer Musikliteratur noch immer das Standardwerk über Schubert fehlt! Ware es vorhanden, wir hätten uns vielleicht die ganze Kalamität des „Dreimädwlhauses” und der in seinen Spuren wandelnden Schubert- Filme und Schubert-Romane, die ganze sentimentale Verzeichnung und kitschige Verzerrung des Bildes dieses Genius erspart, dessen Werk eines der größten Schaffenswunder ist, die wir überhaupt im Bereich der abendländischen Kunst kennen. Wohl hat sich über Schüben ein kaum noch übersehbares Schrifttum angesammelt, auch fehlt es nicht an Versuchen, das so unglückselig verzeichnet Schubert-Bild, wie es sich weite Kreise heute vorstellen, zu korrigieren — wir denken beispielsweise an da Buch von Paul Stefan —, aber noch hat sich keine Kraft gefunden, die das weitverzweigte wissenschaftliche Material zusammengefaßt und damit dem Schubert-Schrifttum erst die feste, unverrückbare Basis gegeben hätte. In der von Eusebius von Mandyczewski besorgten Gesamtausgabe, der Bibliographie von Willi Kahl, den von Otto Erich Deutsch und Ludwig Scheibler gesammelten „Dokumenten seines Lebens und Schaffens”, den Studien von Max Friedländer and anderen sind die Grundsteine zum Bau eines würdigen Schubert-Werkes vorhanden. Das Baumaterial liegt, wenn auch verstreut, bereit. Wer den Bau errichtet, wird sich damit ein unschätzbares Verdienst erwerben.

Ähnlich liegen die Dinge bei C. M, von W eher. Zwar ist die Gestalt dieses Meisters nicht annähernd in dem Maße wie Schubert einer fragwürdigen Popularisierung verfallen, doch hat auch er bei weitem nicht die Würdigung erfahren die ‘er verdiente, und die auch eine wissenschaftliche Aufgabe erster Ordnung wäre. Die 1926 begonnene Gesamtausgabe ist vom Mißgeschik verfolgt und muß neuerdings wieder als gefährdet gelten. Grundlage für die Weber-Biographik bildete bisher das Buch seines Sohnes Max Maria von Weber, das in seiner Art wertvoll, aber wissenschaftlich keineswegs vollgültig ist. Gute kleinere Biographien, wie die von Erwin Kroll, und zahlreiche Einzelarbeiten, wie jene von Georg Kaiser, liegen auch hier vor, doch wird die Synthese ungleich schwieriger sein wie bei Schubert. Auch diese Arbeit muß einmal, und zwar je eher desto besser, geleistet werden.

Auch eine erschöpfende Darstellung des Lebens und Schaffens von Robert Schumann, dessen Werke in einer von Clara Schumann sorgsam betreuten Gesamtaus -.be vorliegen, wurde bisher schmerzlich vermißt. Es ist zu hoffen, daß das vor einigen Jahren erschienene Werk W. Böttchers der Absicht, diese Luke zu schließen, auch wirklich entsprechen möge. Al Muster für alle diese Arbeiten darf der „Mozart” von Jahn-Abert gelten, in der umfassenden Anlage, die die gesamte Umwelt einbegreift, die Wurzeln des Schaffens aufdekt, in der sachlich nüchternen Werkbeschreibung, die sich von subjektiven, poetisierenden Deutungen freihält, wie in der Auswertung des biographischen Materials.

In diesem Sinne haben wir auch noch trotz der hoch einzuschätzenden neueren Bemühungen Hans Joachim Mosers und Rudolf Gerbers das entscheidende Werk über Gluck zu erwarten, dessen Reformopem wohl in der von Hector Berlioz angeregten französischen Pellatan-Ausgabe zur Verfügung stehen, während eine Gesamtausgabe, die unter der Leitung Gerbers geplant war, noch nicht realisiert worden ist.

Angesichts der ins Ungemessene angewachsenen Spezialliteratur und der zahlreichen im Laufe der Jahrzehnte erschienenen Lebensund Werkdarstellungen über Richard W a g n e r mag es vielleicht verwunderlich erscheinen, daß wir ein letztgüitiges Standardwerk auch über ihn in unsere Wünsche einbeziehen. Die sechsbändige Wagner-Biographie von Karl Friedrich Glasenapp kann die Forderung nach wissenschaftlicher Sadilidikeit allein skon deshalb nicht befriedigen, da sie bekanntlich unter der Kontrolle Cosima Wagners entstände: ist und infolgedessen 9trenge Objektivität ebenso vermissen läßt wie des Meisters eigene, im übrigen fragmentarische autobiographische Schriften. Im übrigen wird der größte Teil des Wagner-Schrifttuiqf durch einseitige Einstellungen der Verfasser bestimmt und gibt Zeugnis davon, wie „durch der Parteien Gunst und Haß verzerrt sein Charakterbild in der Geschichte schwankt”. Um so dringlicher ist die Notwendigkeit, daß endlich einmal das gesamte sachliche Material unvoreingenommen verarbeitet und ausgewertet werden möge.

Endlich denken wir auch noch — trotz der höchst verdienstlichen Arbeiten von August Göllerich, Max Auer, Ernst Kurth, Robert Haas und anderen mehr — an Anton Bruckner. Göllerich bietet vor allem ein sorgfältig gesammeltes Tatsachenmaterial des Lebensganges Brukners, das Auer, der Göl- lerichs Arbeit nach dessen Tode zu Ende geführt hat, in seinem Buch komprimiert verwertet. Kurth geht den Gestaltungsgrundsätzen in Brukners Werken in tiefschürfenden Gedankengängen nach. Eine ganz neue Lage ist jedoch durch das von Robert Haas im einzelnen aufgedeckte Problem der verschiedenen Fassungen der Symphonien Brukners geschaffen. Dieses Problem ist jedoch nicht, wie sich immer deutlicher erweist, einfach durch das Postulat eines bedingungslosen und ausschließlichen Geltungsanspruchs der sogenannten „Originalfassungen” zu lösen, und somit steht die Brukner-Forschung nun vor der Aufgabe einer zusammenfassenden Darlegung aller einschlägigen Geschehnisse und einer objektiven Würdigung der verschiedenen Gesichtspunkte. Die genannten Werke werden damit keineswegs entwertet, sie müssen aber in größerem Maße als Vorarbeiten und weniger als letztgültige Ergebnisse betrachtet werden, als dies vorauszusehen war.

Wenn wir noch erwähnen, daß das maßgebendste und umfangreichste lexikographi- sdie Werk der neueren Musikliteratur, das Musiklexikon von Hugo Riemann, in seiner letzten, von Alfred Einstein bearbeiteten Auflage vor zwanzig Jahren erschienen und der ebenfalls von Einstein unter dem Titel „Das neue Musiklexikon” deutsch bearbeitete „Dictionary of modern music” von Eaglefield-Hull vor zweiundzwanzig Jahren herausgekommen ist, so erhellt ohne weiteres, daß auch hier Neuausgaben oder Neuschöpfungen dringend notwendig geworden sind.

Von monographischen Arbeiten über zeit- genössisdie Komponisten soll in diesem Zusammenhang nicht die Rede sein, daß aber auch auf diesem Gebiet große Aufgaben gegeben sind, sei wenigstens angedeutet. So kehren wir zurük zum Au9gang, zu jenen klassischen Musikerbiographien, die Grundsteine bilden und bleiben werden, die aber nach dem Beispiel des Jahn-Abertschen „Mozart” auch ihrerseits der Überarbeitung bedürfen, die sie im einzelnen nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung ergänzt. Im großen Zug der Entwiklung der Musikwissenschaft aber bleibt zu erwarten, daß sie allmählich mehr und mehr über Heroen- und über Stilgeschichte hinaus sich ihre Aufgaben unter dem Aspekt der allgemeinen Geistesgeschichtc stelle.

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