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Genauigkeit hat mit Moral zu tun

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Diese Sammlung kleiner Studien des großen Musikologen Otto Erich Deutsch wird vielen, die ihn gekannt und verehrt haben, nocheinmal die respektgebietende Gestalt jenes Mannes beschwören, der einige grundlegende Werke zur Wiener Musikgeschichte beigesteuert hat. Er begann mit einem Schubert-Brevier, 1909, hierauf folgte das auf vier Bände angelegte Werk „Franz Schubert, die Dokumente seines Lebens und Schaffens“, 1913 erschien der erste Band 1914 der 1. Teil des zweiten. Die vollständige Ausgabe mit Register konnte erst 1946, und zwar in England, publiziert werden, wo Professor Deutsch sieben Jahre des Exils verbrachte. Sein Hauptwerk aber, das vollständige chronologische und thematische Verzeichnis der Werke Schulberts, ist bisher nur in englischer Sprache erschienen; und da es als in jeder Hinsicht gültig und vorzüglich befunden wurde, ist der Name des Musikologen Deutsch durch ein großes D vor jedem Schubert-Werk mit dem des Komponisten so verbunden, wie der Köcheis mit den Werken Mozarts. Rudolf Klein, der wohl der beste Kenner des wissenschaftlichen Werkes von OE, wie ihn seine Freunde nannten, ist und der mit dem Autor auch persönlich befreundet war und der mit nie erlahmender Hilfsbereitschaft den in den letzten Jahren von Krankheit Heimgesuchten betreute, ist ein würdiger Apostel des großen Mannes und selbst ein Musikologe von Rang. Er war also der Berufenste, aus dem reichen feuiMetonistischen, in vielen Zeitungen und Zeitschriften verstreuten Nachlaß die in diesem Band vereinigten 19 Studien auszuwählen.

Gleich im ersten Beitrag, der dem Band den Namen gab, tritt uns die besondere Art und Diktion Otto Erich Deutschs entgegen: wie er mit Humor und Sarkasmus berichtigt, was falsch und fehlerhaft angegeben ist um dann darzulegen, wie es wirklich war, in diesem Fall: wer ein bestimmtes Musikstück komponierte und wer nicht, dem es nur zugeschrieben wird. Oder ein anderer Casus: Bach hat 12 Violinkonzerte von Vivaldi bearbeitet und unter seinem Namen herausgegeben. Dies war die bisherige Meinung. Aber es handelt sich in Wirklichkeit um Kompositionen von Telemann, die er benützte. Haydns „Kindersymphonie“ hat Leopold Mozart geschrieben. Doch bestand er nicht auf der Autorschaft, und Haydn hat das Kuckucksei nicht verleugnet. Das Mozart zugeschriebene Wiegenlied stammt von einem Berliner Dilettanten namens Vlies. Unterschiebungen und kleine musikalische Diebstähle waren damals häufiger als heute — wenn wir die Schlagerbranche ausnehmen ...

Das nächste Stück beschäftigt sich mit den Wiener Serenaden im 18. Jahrhundert und ist reich an kulturhistorischen Details. Durch einen Stich von Franz Xaver Stöber erfahren wir, wann und wo in Wien zum ersten Mal mit dem Taktstock dirigiert wurde: es war am 1. September 1821 anläßlich der Feier zur Erweiterung des Orchesterraumes der Hofoper. Wir lernen das Urbild des Lieben Augustin kennen und werden über das Verhältnis zwischen Haydn und Kaiser Joseph aufgeklärt — das nicht das beste war. Um so besser war das des in Wien so populären Admirals Nelson zu Lady Hamilton und das des bereits im Greisenalter befindlichen Friedrich von Gentz zu der Tänzerin Fanny Elßler...

Eine eigene Studie hat Deutsch dem grotesken Eingriff der Wiener Zensurbehörde in Da Pontes Textbuch zu Mozarts „Don Giovanni“ gewidmet. Wir erfahren, daß Kompositionen von Beethoven und Schubert auf Spiel-dosenwalzen fixiert wurden und daß Beethoven Miliitärmusifc geschrieben hat. Wir hören, daß Schubert ein „Revolutionär“ war — eben ein solcher, wie man ihn damals verstand, daß aber seine Müllerlieder leider nicht in oder neben der berühmten Höldrichsmühle entstanden sind, sondern im Krankenhaus... Zwar hatte Schubert unter seinen Freunden den Spitznamen „Volker, der Spielmann“, aber was Rudolf Hans Bartsch aus ihm gemacht hat, nämlich das ^chwammerl“ (und was ihm im „Dreimäderlhaus“ zugefügt wurde) hat er trotzdem nicht verdient Wir erfahren, und zwar genau, wann Pagawini in Wien war —> bereits 45jährig, anno 1828 — und welche Honorare er für seine 14 Konzerte erhielt Und vom Fiakerbali und von der Fiakermilli haben sowohl Strauss wie Hofmannsthal nicht viel gewußt, jedenfalls können sich die entsprechenden Szenen in „Arabella“ wicht so abgespielt haben, wie in der Oper.

Doch das alles — was soll's? Kleinigkeiten? Aber Otto Erich Deutsch war ein Fanatiker der Wahrheit, der Exaktheit, der genauen Daten und Fakten. Das hatte für ihn etwas mit Anständigkeit, ja mit Moral zu tun. Ausgesprochen hat er das meines Wissens nie — aber er handelte danach und tadelte andere, wenn sie es nicht so hielten. Mit seinem Tod im Jahr 1967 haben wir nicht nur einen großen Musikologen, sondern auch eine moralische Instanz verloren ...

MUSIKALISCHE KUCKUCKSEIER UND ANDERE WIENER MUSIKGESCHICHTEN. Von Otto ErichDeutsch. Ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Rudolf Klein. In der Reihe „Wiener Themen“ des Verlages Jugend und Volk, Wien — München.

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