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Volkskunde-Volksschutz

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„Volkskunde“ begreift das Wort „Volk“ im selben Sinne wie „Volkslied“, „Volksbrauch“, „Volksglaube“,- „Volksmärchen“ „Volkstracht“ usw., bedeutet also jene Formung des Volkes, die man*früher als „primitiv“, dann aber besser als „Mutterboden der Kulturnation“ und als „urver-bunden“ bezeichnete.

Das Wort „Volkskunde“ läßt sich zuerst im Kreise Erzherzog Johanns von Österreich im Jahre 1812 nachweisen, und zwar schon im heutigen Sinne des Wortes, während es vorher (1806) in einer Rezension des „Wunderhorns“ irrtümlich statt Völkerkunde gebraucht ward. Auch sein nächstes Vorkommen (1819) erscheint in Österreich, nämlich in Ziskas und Schottkys Märchenbuch aus dem niederösterreichisch - stei-rischen Grenzgebiet. Später hat es unter anderen auch Goethe bei einer Besprechung von Grüners „Egerländischem Volksleben“ gebraucht.

Und nach hundertjährigem Streit über jenen Begriff „Volk“ hat es wieder ein Österreicher — Hugo von Hofmanristhal — am schönsten und treffendsten ausgesprochen, was „Volk“ sei, wenn er an einer kaum bekannten Stelle seines Tagebuches * schreibt:

Daß dieser Begriff etwas anderes bedeutet als den „Primitiven“ der Völkerkunde,

* K. J. Burckhardt, Erinnerungen an Hugo von Hofmannsthal, Basel (Klosterberg), 1943, S. 317.

„Der Begriff des Volkes ist schattenhaft geworden, weil sein rechter Gegensatz

?Cri tm Sommer

Einmal stehst du noch auf, Sommer der Welt, mit all deinen Sonnen und mit all deinen Donnern, trittst

in das Wehen der Wiesen

und den Wind, der den Waldrand neigt,

brichst mit Wagen und mit Rossen noch einmal in's

Land, und hoch über dir schwanken die Speere wie Halme über dem Haupte eines, welcher im Korn entschlief.

Bist du's noch? Ja, du bist's, welcher Byzanz und Rom, beide Indien und Wunder der Welt geträumt,

steigst in all deinem Ruhm noch

einmal, aber dann nicht mehrl Denn

von den Göttern gesät, wachsen die Völker schnell auf zur Sonne, doch jetzt neigt sich das wogende

Feld der Menschen mit schweren

Häuptern wieder der Ernte zu.

Türme stürzen und Mastbäume geflügelter Schiffe, Hütt' und Palast fallen zu Trümmern hin,

und die Rosse des Siegers“

weiden, wo einst der Markt gelärmt.

Schlagt denn, wo ihr zuerst schlüget, dio letzte, die Schlacht auchl Folgt ihr doch bloß ewiger Wiederkehr.

Nur wer sich unter das Schicksal

beugt, bezwingt es, das eherne.

Alexander Lernet-Holenlo fals aem Gedichtband „Die Titanen“, Amandus-Edition bedarf keiner Erörterung. Denn jener „Mutterboden der Kulturnation'- (der Römer nannte ihn vulgus) steht in ständiger Wechselwirkung zu allen übrigen Zi ::.nds- und Lebenskreisen der aus ihm hervorgegangenen Hochkulturen, gibt an sie Lebensströme ab, empfängt aber auch dauernd von ihnen „gesunkenes Kulturgut“. Er läßt sich auch nicht nach Ständen fassen, denn die Kinder aller Stände gehören ihm zu, und' wenn sich auch in abgelegenen Bauerngebieten die Kern- und Archetypen des vulgus finden, so schlägt dieses doch zeitweilig, besonders im Affekt (Angst, Zorn, Haß, Sinnenlust) auch bei den anderen durch, während heute, auch in Österreich, längst nicht mehr alle Bauern zum vulgus gehören.**

Immerhin bedeutet die Tatsache, daß wir in Österreich heute noch 40 und mehr Prozent Bauern haben (während sie im Devtschen Reiche bereits 1940 auf 18 Prozent gesunken waren!), allein schon unendlich viel, nicht nur für die Wissenschaft der Volkskunde, sondern auch für die Volksbiologie der gesamten Sprach- und Kulturnation. Auch in dieser Hinsicht gehören wir Österreicher in dieselbe Reihe wie Oberbayern, Oberschwaben oder wie die Schweiz ... Die Alpenbewohner wurden schon von den Romantikern als bergfrische Lebensquellen für das Gesamtvolk erkannt und Erzherzog Johann suchte und fand 1810 bei ihnen Zuflucht vor den „wurmstichigen Herzen“. „Aus den Gebirgen entspringen die Quellen, von da muß Rettung kommen ...“, schrieb er damals in sein Tagebuch. Es ist daher kein Zufall, daß die Volkskunde gerade in Österreich besonders ausgeprägte Vertreter in der Kunst und in der Wissenschaft gefunden hat, wir brauchen nur Namen wie Erzherzog Johann, Karl Weinhold, Rudolf Meringer auf der wissenschaftlichen, Adalbert Stifter, Peter Rosegger, Paula Grogger auf der künstlerischen Seite zu nennen ... kirnen, denen wir sehr leicht Dutzende anderer Österreicher anreihen könnten.fehlt: von Großen, wie im 17. oder 18. Jahrhundert, können wir nicht mehr sprechen, und die Reichen sind ein erbärmlicher Gegensatz. Und doch ist der Name Volk nicht hinfällig: die Menschen, unter denen man sich täglich bewegt, mögen aus dem Volk hervorgegangen sein, aber sind nicht Volk. J Triffst Du auf Menschen, unter welchen Dir Has Leben ein anderes Schwergewicht zu haben scheint, welche im Ertragen des Schweren das gewöhnliche Menschenlos sehen, die das Ärgste mit ruhiger Fassung hinnehmen, sich auch über den Tod keine übertriebenen Gedanken machen, bei denen das Wort näher beim Gefühl, der Gedanke näher bei der Handlung zu sitzen scheint, deren Urteil Dich Punkt für Punkt über die Wirklichkeit belehren, deren Mangel an Dialektik Dich überraschen, in deren Umkreis Dir das Geschehen in der Welt minder verworren und selbst das Leiden sinnvoll erscheinen wird, in deren Gesellschaft Dich vor Dir selbst zu behaupten, Dir mitzutun schwerer sein wird, als ihre Zuneigung zu gewinnen, die dich durch Ihre Leichtgläubigkeit öfter lächeln machen, durdi ihre ungelernte Vornehmheit öfter beschämen — unter denen Du zu Hause und fremd zugleich eine Art Heimweh nach einem Zustand des Geistes empfindet, der Dir wohl nicht fremd, aber unzugänglicher ist als das verlorene Paradies, so wisse, Du bist unterm VolkH' — I * Näheres darüber in meinem bei Otto

Müller in Salzburg bald erscheinendem Buch

„Um Österreichs Volkskultur“.

Doch auch ganz abgesehen von alledem ist eine inständige wissenschaftlich wohl- begründete Pflege der Volkskunde in Schule und Kultur gerade in unseren Tagen eine sehr ernste Pflicht, die der Staat und auch die Kirche in ganz besondere Obhut nehmen sollten. Ich wüßte wirklich nichts, was unsere große und schwere Aufgabe, Österreich wieder zu sich selber heimzuführen, mehr fördern könnte, als jenen Mutterboden zu erkennen, zu hüten und zu pflegen.

Zu hüten: vor aller Vernichtung. Verzerrung und Verwässerung. Es muß einem da recht oft bange werden, wenn man sehen muß, wie allerlei Verderbnis und Gift auch bei uns zu Lande am Werke ist, die erwähnten 40 Prozent zu mindern, nicht nur körperlich durch Landflucht und Verelendung wirtschaftlicher und gesundheitlicher Art, sondern auch im noch viei tieferen seelischen Bereich. Hier kann nur eine volkskundlich geschulte Lehrerschaft und ein ebenso unterrichteter Klerus wirklich helfen. Eine solche Schulung — wie sie in vorbildlicher, auch vom Ausland nachgeahmter Art Monsignore Steinberger in Steiermark vornimmt — bedarf aber sehr tüchtiger und intensiv vorgebildeter Lehrer. In Schnellsiederkursen — da kann nicht genug betont werden — läßt sich Volkskunde nicht lehren! Es muß zu einer mindestens zweijährigen volkskundlichen Schulung in den Lehrerbildungsanstalten und bei den Theologen kommen, wenn hier wirklich geholfen werden soll. Die unerläßlichen Lehrer für diesen Gegenstand aber müssen eine gründliche volkskundliche Hochschulbildung erhalten, weshalb „Volkskunde“ auch als Lehramtsprüfungsfach an unseren Hochschulen eingeführt werden muß!

Das würde sich auch in anderer Weise sehr wohltuend auswirken. Es ist wahrhaft erschreckend, was und vor allem wer heute sich in Österreich alles mit „Volkskultur“ beschäftigt. „österreichische Dirndln“ werden von Konfektionären ohne jedes Verständnis für unsere Volkstrachten geschaffen, eine „österreichische Trachtenmode“ (schon dac Wort ist ein Unsinn!) soll für „Exportzwecke“ „getätigt“ werden; „Heirhatwerke“ schießen (nach unserem steirischen Vorbild, aber ohne dessen sehr strenge Voraussetzungen) wie Pilze aus dem Boden und werden ohne jede Kenntnis der tiefen Werte unserer Volkskunst und Volkstracht vielfach rein „kaufmännisch“ geleitet und zum Zerrbild dessen, was ein Heimatwerk sein müßte, zu Verkaufsstätten für schundigin und süßlichen „alpinen“ Kitsch, den das Volk selber derb aber treffend als „Gschnas“ bezeichnet; Bauernmöbel werden fibriziert und mit Mustern des 18. JahrnundertS; „Bauernteller“ mit naturalistische Almblumen bemalt usw. Und was sich im Film, im Rundfunk und auf verschiedenen Bühnen und Varietes als „Volkskunst“ breitmacht, ist sehr oft nichts anderes als eine zotige und ordinäre Verhöhnung des Volkslebens nach dem Motto: „Auf der Alm, da gibt's ka Sünd ...“

Ich glaube nicht, daß da immer böser Wille dahinter steckt. Viel wichtiger und entscheidender ist es, daß — auch in „gebildeten Kreisen“ — eine wahrhaft beschämende Unkenntnis vom „Volk“ und seiner Kultur herrscht. Ich erlebe es in meiner Arbeit tagtäglich, daß Lehrer, Geistliche, Künstler, Schriftsteller eine völlige Ahnungslosigkeit auf diesem Gebiete bezeugen, daß sie ein echtes Volkslied und einen wirklichen Jodler von einem Touristenbuchvers und von einem Varietejodler, daß sie wirkliche Tracht von Salontirolern und Semmeringdirndln, daß sie Volkskunst von Fremdenandenk-n mit Enzian- und Edelweißmalcreien nicht zu unterscheiden verstehen, daß sie einen großstädtischen „Nikolorummel“ für einen Volksbrauch halten und eine Girlrevue, wenn sie nur ein in Landesfarben gestreiftes Bndekostüm tragen, für eine „volksechte“ Vorführung.

Und die Ursache? Woher sollen die durch Jahrzehnte dem Mutterboden so fern gerückten Kreise wirkliche Kenntnis des Volkslebens, wirkliches Verstehen und Einfühlen in diese geheiligten Bezirke erwerben können?

Es gibt auch da wieder nur eine Hilfe: gründliche volkskundliche Schulung für alle, die ihr Beruf ins Volk stellt!

Wer Stifter richtig zu lesen versteht, wer Rosesgers beste Schriften, wer Paula Grogger kennt, der ist betroffen von dem unerhörten Schatz, den Österreich an seiner Volkskultur noch vor 50 Jahren hatte!

Zutiefst erfüllt von der Größe der Aufgabe, die uns Österreichern hier gestellt ist, und in heißester Sorge habe ich diese Zeilen geschrieben. - Mehr als je gilt heute und gilt gerade für uns Österreicher das Wort des großen deutschen Volksforschers Wilhelm Heinrich Riehl: „Die Volkskenntnis müßte aller Staatsweisheit Anfang . sein!“

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