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Die Schlange beißt in den eigenen Schwanz

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Von August Kekule, dem Chemiker aus Darmstadt, der im Jahre 1865 die Ringformel des Benzols entdeckte, erzählt man sich noch heute in Laboratorien und Hörsälen mehrere Anekdoten. Kekule soll sie selbst in Umlauf gebracht haben. Diese Geschichten sind so hübsch, daß man sie in der trockenen chemischen Lehrmaterie nicht missen möchte, unabhängig davon, ob sie nun wirklich wahr sind. Im Traume, so wird berichtet, habe Kekule eine Schlange gesehen, die sich am eigenen Schwanz faßte. Im Hause eines Freundes in Gent sei ihm dieses Bild vor dem flackernden Kaminfeuer wieder erschienen. Und auf der Plattform eines Omnibusses in London schließlich sei ihm klargeworden, daß der in sich geschlossene Ring die Struktur des Benzols sei.

Solche Visionen passen ganz und gar nicht mehr in die Vorstellung vom modernen, nüchternen Naturwissenschaftler. Wer sich jedoch darüber erhaben dünkt, der reduziere sie auf ihre ungeschmückte Aussage — er wird den Anteil der spekulativen Genies am Fortschritt erkennen müssen. Kekules Träumerei war nicht das Hirngespinst eines Phantasten, sondern die konstruktive Leistung eines Denkers. Die Notwendigkeit schöpferischer Begegnung von Intuition und Experiment, die heute gerne geleugnet wird, hat Helmholtz in die noch immer gültigen Worte gefaßt: „Etwas vom Schauen des Dichters muß auch der Forscher in sich tragen!

Die Voraussetzungen, von denen Kekule für seine Theorie ausgehen mußte, sind heute sehr schwer vorstellbar. Die hundert Jahre seit damals haben unsere Kenntnisse über die Chemie und besonders die organischen Verbindungen stärker anwachsen lassen als alle Jahrtausende der Existenz menschlichen Forschens und Denkens vorher. Zu leicht erscheint es heutzutage so, als sei Kekule mit seiner Benzolformel etwas im Grunde Selbstverständliches eingefallen. Erst wenn man sich den damaligen Stand des theoretisch noch vielfach verworrenen Wissens vergegenwärtigt, erkennt man die Kühnheit dieser Leistung. Sie und die ihr vorübergehende Strukturlehre Kekules riefen dann auch keineswegs nur Zustimmung hervor, sondern sie erweckten Zweifel und lebhafte Kritik bei angesehensten Chemikern, so bei Berthollet in Frankreich, Markownikow in Rußland und Kolbe und Fittig in Deutschland. Von vielen Gelehrten wurde die Prismenformel von Ladenburg vorgezogen. Diese Auseinandersetzungen sind heute nur noch von historischem Interesse. Zwar gibt es bis in die jüngste Zeit Verbesserungsvorschläge und Interpretierungen. Man weiß von der Problematik der Benzolformel und daß sie zum tieferen Verständnis quantentheoretischer Deutung bedarf. Aber Kekules nun hundertjähriges Symbol ist geblieben, trotz allem. Machtvolle physikalische Methoden haben es Jahrzehnte später bestätigt.

Der „Benzolring wird gefunden

Unter der Mitarbeit von August Kekule entstanden auf dem Chemiekongreß von Karlsruhe im Jahre 1860 einige wichtige Hypothesen. Heute sind es Naturgesetze. Kekule und seine Mitarbeiter erklärten:

•Kohlenstoff .hat die Fähigkeit, vier Wasserstoffatome zu binden. Er ist „vierwertig.

•Kohlenstoffatome können sich auch untereinander verbinden. Diese Theorie stieß auf große Skepsis. Die herrschende, von Berzelius vertretene Ansicht war, daß nur verschiedenartige Atome chemische Verbindungen miteinander eingehen können. • Je sechs Kohlenstoffatome können abwechselnd einfach und doppelt miteinander verbunden sein.

Mit dieser letzten Annahme ist die Möglichkeit des „Benzolringes bereits angedeutet. Joseph Loschmidt legte denn auch 1861 ein Modell dieser Art vor, und fast gleichzeitig mit Kekule versuchte Lothar Meyer eine ähnliche Erklärung. Alexander Butlerow deutete mit seinen Forschungen in die Richtung Kekules. Der „Traum von der Schlange war somit nicht etwa ein glücklicher Zufall. Er war längst vorbereitet. Er war die konstruktive Zusammenschau des Wissensstandes, er war der Genieblitz, der die einzelnen, bereits vorliegenden Bausteine zusammenschmilzt zum neuen Baukörper.

So sieht, die räumliche Vorstellung auf eine Fläche reduziert, der berühmte Benzolring, den man heute ohne Buchstaben nur mit einem Sechseck in der Formel andeutet, aus:

Mit der Entdeckung dieser Formel war den Chemikern der Schlüssel für die Erforschung der aromatischen Verbindungen in die Hand gegeben. Der Steinkohlenteer mit seinen Destillationsprodukten bildet die Ausgangsbasis der Großindustrie, die aus diesen Erkenntnissen wuchs.Farbstoffe und Arzneimittel, die Treibstoffe und in der letzten modernen Verfeinerung die Hormone und Enzyme, deren Struktur und Herstellung der Mensch heute im Griff hat, wären ohne den Benzolring undenkbar. Die ganze industrielle Revolution, die in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts begann, ist durch die Formel Kekules mitausgelöst.

Aus Böhmen kam die Familie der Kekule im Dreißigjährigen Krieg nach Deutschland. In Hessen bildete sich ein Zweig zu mehreren Beamtengenerationen aus. Kaiser Wilhelm II. erneuerte einen alten Adelsbrief: Kekule von Stradonitz.

Die Geburtsstadt Darmstadt — August Friedrich Kekule kam dort am 7. September 1829 zur Welt — ist für die Chemie aus mehreren Gründen ein Begriff. Auch Justus von Liebig war Darmstädter. Das deutsche Geistesleben brachte einige große Namen aus dieser Stadt und dem auch von Kekule besuchten Ludwig-Georgs-Gymnasium hervor: Lichtenberg, Gervinus, Georg und Ludwig Büchner, Stefan George und Gundolf.

Der junge Kekule wandte sich nach dem Gymnasium zunächst dem Studium der Architektur zu. Das konstruktive und bildhafte Denken des Chemikers wird von manchen seiner Freunde den Einflüssen dieser Vorbildung zugeschrieben. Im Jahre 1849 geriet Kekule in eine Vorlesung Liebigs und sattelte auf die Chemie, die ihn vollends begeistert hatte, um. Nach Praxis- und Assistenzjahren in Paris und in der Schweiz promovierte der Student 1852 zum Doktor der Philosophie.

Die wissenschaftliche Laufbahn führte ihn nach London und nach Heidelberg, wo er Assistent Bunsens wurde. Von 1858 bis 1867 wirkte Kekule als Professor in Gent. Er kam anfangs in große Schwierigkeiten mit der Öffentlichkeit und mußte bei seinen Vorlesungen von der Geheimpolizei bewacht werden. Schließlich erwarb er sich aber Achtung und Zuneigung und eine bedeutende Hörerschaft. Die letzten 30 Jahre seines Lebens lehrte Kekule in Bonn. Seine Arbeit und sein Wirken wurden gleichmäßig und still. Im Jahre 1890 wurde er anläßlich der 25-Jahrfeier seiner Benzoltheorie mehrfach geehrt. Am 13. Juli 1896 starb er.

Das private Leben war von dem kurzen Glück einer tragisch endenden Ehe aufgehellt.

Die Charakterzüge August Kekules zeigen einen Mann, der der Verantwortung und Vorsicht viel, manchmal zu viel opfert. Er steht damit in einem reizvollen Gegensatz zu einigen seiner forschenden Zeitgenossen, vor allem zu dem jähen, polemisierenden, voranstürmenden Liebig. Die Erkenntnis der letzten Konsequenzen aus seiner Benzolformel blieb Kekule vielleicht auch aus dieser persönlichen Eigenart versagt. Henricus van't Hoff und Achille Le Bei vollendeten das Konzept Kekules erst, indem sie die räumliche Vorstellung der organischen Moleküle zu Ende dachten und die modernen Feldtheorien der Bin-ciungskräfte einleiteten.

Die technische Nutzanwendung lag vollends außerhalb des Gesichtskreises von Kekule. Was ihn trieb, war der reine Erkenntnisdrang des Naturforschers. Nicht trotzdem, sondern gerade deswegen war der Nutzeffekt seines Denkens so groß. Es gibt heute kein chemisches Werk, 'as an ihm nicht profitiert und damit eindringlich beweist, daß die sogenannte „Grundlagenforschung die wichtigste geistige Investition eines Landes und Volkes, ja der ganzen Menschheit ist.

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