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Heilungen in Lourdes

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Der Dogmatismus des Aberglaubens ist nicht weniger stark als der des Glaubens. Romano Guardini

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Der Dogmatismus des Aberglaubens ist nicht weniger stark als der des Glaubens. Romano Guardini

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Neben einem sehr banalen, wenngleich tiefsitzenden Aberglauben, der mitunter gegen eine optimistische, kaum verstandene Parapsychologie ausgetauscht wird, findet sich eine nicht geringe Skepsis gegen Wunderheilungen. Kulxurpsychopa- thologisch ist das gut erklärbar, weil man weiß, daß der teohnizistisch sich verstehende Mensch ein religiöses Vakuum hat, in welches para- religiöse, ja paramystische Gedanken hineinwuchem. In diese Situation, die nicht nur in einzelnen Menschen (pluralistisch) deutlich wird, sondern deren Schwerpunkt von einzelnen Menschen getrennt gelebt wird, in diese Situation hinein kommt wiederholt die Nachricht von Wunder- heilungen in Lourdes. Allmählich ist selbst für nichtwissenschaftliche Zeitungen eine Nüchternheit in der Berichterstattung zu beobachten, zumal die kirchlichen Stellen sehr genaue Überprüfungen verlangen, so daß dann um Jahre später erfolgte Gutachten längst den Reiz der Neuigkeit verloren haben. Diese Verfahren haben strengen Charakter von Gutachten, von jenem Grad, der ge- richtlicherseits für genügend erachtet wird. Die letztlich brauchbaren Berichte über Lourdes sind dann die sorgfältig erarbeiteten, Dossiers im Ärztebüro in Lourdes, der ersten Instanz, welcher noch eine zweite Instanz vorgesetzt ist, bevor das Verfahren vor die bischöfliche Kommission kommt. Leichter zugänglich sind monographische Veröffentlichungen, wie jene von dem langjährigen Präsidenten des Ärz’tebüros in Lourdes, Dr. A* oiivieri» der jo. einer französischen Fassung 30 Heilungen aus den Jahren 1949 bis 1971 beschreibt, in einer deutschen Fassung

18 Heilungen aus den Jahren 1950 bis 1969 (Pattlooh, Aschaffenburg 1973). Es handelt sich daibei um Krankengeschichten und Berichte über langjährige Nachuntersuchungen, in medizinischer Diktion, also rein medizinische Berichte, so daß sich der Arzt, der sie liest, sein Urteil selbst bilden kann, Teilfragen aus den abgedruckten Befunden sich beantworten kann.

Was ist Lourdes? „Ein Ort“, schreibt Romano Guardini, „wo der lebendige Gott seine Macht bezeugt hat und immer neu bezeugt: zu einer bestimmten Zeit und in einer bestimmten Weise, nämlich in Verbindung mit der Person der Mutter Jesu, die ihrerseits im Zusammenhang der Heilsgeschichte eine besondere Stellung hat. Hier geschehen Wunder im Sinne außergewöhnlicher Wirkungen, nämlich als Heilung von Krankheiten …

Nach allem, was vertrauenswürdige Berichte sagen, ist es von Zeit zu Zeit immer wieder geschehen, daß ein Kranker eine aus natürlichen Zusammenhängen nicht erklärbare Heilung fand. Deren Sinn lag aber nicht in der Heilung als solcher, sondern in der Erfahrung, daß sich darin der göttliche Wille auf ihn riohtete, ein Anruf an ihn erging“ (Wunder und Zeichen, Würzburg 1959).

In diesen Sätzen sind beide Leitgedanken einer Wunderheilung enthalten, die medizinische Unerklärbarkeit und der theologische Gehalt und Sinn dieses Vorganges.

Es gibt ein ganzes Bündel prinzipieller Fragen: ein Problem sei hervorgehoben: die Forderung, daß jedes Ereignis in der Welt nur durch innerweltliche Ursachen zustande kommen könne — Prinzip der welt- immanenten Kausalität. B. Weissmahr versteht diese Forderung in einem affirmativen, aber nicht in einem exklusiven Sinn, mit anderen Worten: alles, was in der Welt geschieht, muß entsprechende inner- weltliche Ursachen haben, aber das bedeutet nicht, daß das, was in der Welt geschieht, nur innerweltliche Ursachen haben muß und nur von innerweltliohen Ursachen her erklärt werden kann.

Die medizinischen Wunder können als Wunder quoad modum hinsichtlich des Heilungsvorganges verstanden werden. Wenn eine Heilung in der Regel, in der überwiegenden Zahl der Fälle, einen bestimmten Verlauf nimmt, so ist das der gewohnte Ablauf. Wird hingegen in gleicher oder ähnlicher Situation das gewohnte pathophyßiologische Geschehen in Art und Ordnung überschritten, so ergibt sich daraus die Voraussetzung für die Annahme eines Heilungswunders. Es ist charakteristisch, daß wir dabei meist die Plötzlichkeit der Heilung und das Fehlen einer kürzer oder länger dauernden Genesungsphase, die im allgemeinen dem gewohnten Natur- verlaiuf entspricht, feststellen müssen (E. Emminger).

Es gibt eine Reihe von Kriterien, die erfüllt sein müssen, wenn die Ärzte von einer medizinisch nicht erklärbaren Heilung sprechen dürfen: Es muß eine organische Krankheit schweren Grades Vorgelegen sein, die innerhalb abnorm kurzer Zeit ohne jegliche Therapie geheilt wurde. Es müssen Befunde längere Zeit vor und kurze Zeit nach der

Heilung, sowie eine entsprechende Nachibeobaohtungszeit gegeben sein. Die Befunde müssen mit modernen Methoden erhoben worden sein. Funktionelle Erkrankungen werden vom internationalen Ärztebüro (zweite Instanz) zurückgewiesen. Halten das Ärztebüro in Lourdes und das internationale Ärztebüro eine Heilung für „medizinisch unerklärbar“, wird der Akt der kanonischen Kommission des für den Geheilten zuständigen Bischofs zugeleitet. Die beiden ärztlichen Institutionen stellen gegebenenfalls die Wirklichkeit der Heilung fest, das Urteil über den Charakter einer Wunderheilung ist dem Bischof Vorbehalten.

Als Beispiel sei eine Krankengeschichte einer Patientin gerafft wiedergegeben, die 1944 an multipler Sklerose, einer hartnäckigen chronischen Erkrankung des zentralen Nervensystems, die mit Sehstörungen und vielfältigen Lähmungen einhergeht, erkrankt war. 1950 erfolgte die Heilung in Lourdes, 1961 die Anerkennung als Wunderheilung. 1944 wurde der Beginn der Krankheit in der Universitäts-Nervenklinik Tübingen festgestellt, von August 1945 bis Jänner 1946 war die Patientin in derselben Klinik; die Diagnose lautete: multiple Sklerose mit nicht sehr günstigem Verlauf. Zahlreiche Krankenhausaufenthalte, bis Mai 1950 dauernde Verschlimmerung. Im Endstadium der Erkrankung wird die Patientin 1950 nach Lourdes gebracht; Heilung am 20. Mai 1950 in Lourdes. Zahlreiche Nachuntersuchungen. 1961 erklärt Prof. Thie- baut die Heilung für medizinisch nicht erklärbar. 1968 war die ehemalige Patientin weiterhin völlig gesund.

Die Beurteilung einer Wunderheilung .muß jeweils von der besonders gegebenen Situation ausgehen. Es gibt eine absolute Unteilbarkeit, die so weit fortgeschrittene multiple Sklerose in unserem Fall, oder die Syringomyelie (Höhlenbildung innerhalb der grauen Rückenmark-

1 substanz); es gibt feine relative Un- ; heilbarkeit, nach Zeit und Um- \ .ständen verschieden. Therapeutische und augenblicklich gegebenen Mög lichkeiten ärztlicher Hilfe müssen bei der Beurteüung zeitlich zurückliegender Heilungen berücksichtigt werden.

Für die medizinische Seite kommt es auf fundierte Gutachten an, wie sie in einem Gerichtsverfahren vom Richter in die Urteilsfindung und Urteilsbegründung einbezogen werden. Was aber für ein weltliches Gericht in einer weltlichen Angelegenheit mit genügender Sicherheit gesagt werden kann, sollte doch auch für ein kirchliches Verfahren gelten; aber es will eine Wunderheilung manch gegenwärtigem Verständnis immer noch nicht ausreichend begründet sein. Hier ist wohl eine Grenze gegeben, jenseits welcher andere Motivationen und Argumente gelten als klinische Nüchternheit, redliche Befunderhebung und sorgfältige Interpretation.

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