6593971-1952_45_05.jpg
Digital In Arbeit

Besuch bei der Dame von Massahielle

Werbung
Werbung
Werbung

DIE LANDSCHAFT UM LOURDES ist enttäuschend. Sie ist so gar nicht südfranzösisch. In der Nähe von Graz findet sich ähnliches Hügelgelände. Die Stadt ist ein seltsames £lemisch: da ist die alte französische Stadt, mit der Mairie — dem Bürgermeisteramt —, der schmutzigen Post, einer häßlichen Kirche, kleinen Häusern, lärmenden Schulkindern, schwatzenden Frauen, würdigen Männern, die nonchalant Aperitifs in den Cafés schlürfen; einer Stadt, die vor hundert Jahren genau so lebt wie heute. Was mit ändern Worten heißt, daß sie so lebt, als wäre nichts Seltsames in ihrer unmittelbaren Nähe geschehen. Neben der alten Stadt liegt, ebenso abgeschlossen in sich, eine Hotelstadt. Ähnlich den Kurstädten, die um die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts entstanden, mit großen, luxuriösen Kasten und kleinen, weniger luxuriösen Kasten, beide bereit, jederzeit Gäste aufzunehmen. Zu ebener Erde enthalten diese Kasten Geschäft neben Geschäft. Während aber in allen ändern Kurstädten, in Karlsbad, in Montecatini, in Montreux alles Mögliche in diesen Läden zu finden ist, bieten diese Geschäfte nur religiösen Kitsch feil. In ungeheuren Quantitäten und Solcher Qualität, daß jedem Besucher beim ersten Anblick dieser Berge ein leichter Schock überfällt. Nach der Hotelstadt endlich komnjit der „heilige Bezirk"; zuerst ein Park, dann ein riesiger Platz, dann die übereinandergebauten Kirchen in Zuckerbäckerarchitektur. Dann, seitlich von diesen Kirchen, endlich die Grotte von Massabielle. Belassen in dem ursprünglichen Zustand. Das Gestein schwarz von dem Rauch der Kerzen, die Tag und Nacht in ihr brennen. In einer Nische die Statue, die Vorbild wurde für hunderttausend kitschige Statuen. In der Grotte ein kleiner Altar. An einer Wand unzählige Krücken, über allem eine seltsame Atmosphäre. Undefinierbar zunächst, ein „Etwas", das in der Luft liegt. Ein Atmosphäre, die allen soeben gesehenen Kitsch vergessen läßt, die in den Menschen dringt, selbst den Ungläubigsten packt.

NATÜRLICH GIBT ES unzählige Broschüren über Lourdes. Besser gesagt über die Erscheinungen in der Grotte von Massabielle im Jahre 1858. Vielleicht ebenso viele Bücher. In denen alles fein säuberlich aufgezeichnet ist, was sich hier zugetragen hat. Eine genaue Chronik. Geschrieben von Katholiken. Zu lesen fast nur von Katholiken. Von denen noch manche bei der Lektüre seufzen. Denn wenn auch alle Darstellung jene Ereignisse, die sich in Massabielle abspielten,’ immer nur einen schwachen Widerschein der Wirklichkeit abgeben können, so war der Widerschein dieser Bücher besonders matt. Er reichte über den Kreis der Katholiken niemals hinaus. Ein glatter Mißerfolg.

Verständlich — man verzeihe diese menschliche Ausdrucksweise —, daß die „Dame von Massabielle" eines Tages dieses Mißerfolges müde wurde und sich einen Herold suchte, der in erster Linie ein großer Künstler war. Dieser Künstler hieß Franz Werfel. Die Entstehung seines Buches über Lourdes ist bekannt. Jenes Buches, in dem nichts Neues über Lourdes steht, in dem keine anderen Ereignisse aufgezeichnet werden, wie in den bisher erschienenen. Nur der Stil ist etwas anders. Der Stil eines großen Künstlers, der ein Ungläubiger war. Und dessen Buch für Hunderttausende, ja Millionen von Ungläubigen der erste Berührungspunkt mit der Kirche wurde.

Jener Kirche, in deren Schoß eines Tages auch der Verfasser selbst landete.

Viele Katholiken sind der Ansicht, daß im Leben des Glaubens, in der Frömmigkeit der Schönheit nicht unbedingt ein Platz eingeräumt sein müßte. Der Erfolg des Werfel-Buches sollte ihnen zu denken geben, wobei der Ausspruch des heiligen Franz von Sales: „Wir sollen unsere Frömmigkeit so anziehend wie möglich gestalten", ihnen eine große Hilfe bieten könnte.

—’

DIE KLEINE Bernadette Soubirous, die Heilige von Lourdes, steht in der Mitte zwischen den beiden ändern Heiligen, die Frankreich der Welt im 19. Jahrhundert schenkte. Im Jahrhundert des Liberalismus, des Nationalismus, des Sozialismus, des Fortschritts. Im Jahre 1859, da die kleine Bernadette von Soubirous sich anschickt, die Welt zu verlassen und ins Kloster einzutreten, verläßt in dem kleinen Ort Ars Jean Vianney, Pfarrer eben dieses Ortes, endgültig die Welt. Und 20 Jahre später, da die ehemalige Bernadette, jetzt Schwester Ber- nard von den Schulschwestern in Nevers, sich zum Sterben anschickt, beginnt ein kleines Mädchen im nördlichen Frankreich sich die ersten Gedanken über jenen Weg zu machen, der sie einige Jahre später in den Karmel von Lisieux führen wird.

Der Pfarrer von Ars war einst bei fast allen Prüfungen im Seminar durchgefallen, kaum ließ man ihn zur Priesterweihe zu. Kaum gewährte man ihm die Jurisdiktion zum Beichthören, eingedenk seiner schwachen Kenntnisse im kanonischen Recht. Aber seltsam: nicht die be- riihmten Kanonisten, Dogmatiker, Bischöfe, Prediger, Kardinäle seiner Zeit wurden heiliggesprochen, sondern er, der arme, kleine durchgefallene Seminarist.

Und die kleine Bernadette Soubirous: Kind armer Leute, ohne besondere Geistesgaben. Sogar eine recht schwache Schülerin. Als sie die Erscheinungen hat, von endlosen Kommissionen ausgefragt, daß es ihr fast schon eine Qual wird. Im Kloster nicht immer von ihren Mitschwestern gut behandelt. Kaum etwas in ihrem Leben, das sie besonders hervorheben würde. Aber auch sie wird heiliggesprochen und nicht ihre Mitschwestern, die Mitglieder der Kommissionen, die sie verhörten, oder ihr Pfarrer, ihr Bischof.

Und die kleine Theresia: ein verzärteltes Kind, anscheinend sehr exaltiert als junges Mädchen, das sich frühzeitig den Eintritt in den Karmel erzwingt, um darin schon mit 24 Jahren an Tuberkulose zu sterben. Kurz vor ihrem Tod hört sie zwei Mitschwestern, die sich unterhalten, was denn die Priorin im Nachruf für die bald Sterbende sagen werde. Denn ihr Leben enthalte so gar keine besonderen Tatsachen. Aber auch diese anscheinend so unbedeutende Schwester Theresia von Lisieux wird heiliggesprochen und keine ihre Mitschwestern.

Drei Heilige, die wie in einem seltsamen Stafettenlauf die Fackel der Heiligkeit innerhalb eines Landes und eines Jahrhunderts weiterreichen. Drei Heilige, die den „kleinen Weg" zur Heiligkeit gingen. Anscheinend oder sicher ohne besondere Geistesgaben. Aber mit der Glut ihrer Herzen. Drei Heilige, die beweisen, daß es doch in erster Linie immer auf die Größe der Liebe ankommt. Tröstlich für die ungeheure Masse von Menschen, das Beispiel dieser drei. Betrüblich, wenn man überlegt, daß nur diese drei Heilige wurden und nicht auch, wie einst Thomas von Aquin, Augustinus, Robert Beilarmin, die großen Theologen, die

Dogmatiker, die Kanonisten, die großen

Prediger, die Herrschenden ihrer Zeit.

AUF EINER STEINERNEN TAFEL neben der Grotte ist die Geschichte der Erscheinungen eingemeißelt. Die Worte, die die „Dame von Massabielle" zur kleinen Bernadette Soubirous gesprochen hat.

„Wollen Sie mir die Gnade erweisen", heißt eines dieser Worte, „durch fünfzehn Tage hieher zu kommen?"

Ein erstaunliches Wort „Wollen Sie mir die Gnade erweisen ?" gesprochen von jener,, die man als die Königin des Himmels und der Erde zu bezeichnen pflegt, zu einem unbedeutenden Mädchen. Ein Wort, das eigentlich einer Dienenden und nicht einer Herrschenden zustehen würde. Einer Herrschenden, die zu befehlen, zu fordern, zu verlangen hätte. „Wollen Sie mir die Gnade erweisen ?“

Was wäre aus der Geschichte der Welt geworden, wenn die Herrschenden dieser Welt zu ihren Untergebenen jemals ähnliche Worte gesprochen hätten? Worte, aus denen hervorgegangen wäre, daß alle Herrschaft in erster Linie Dienst ist? Es hätte keine Probleme der Macht gegeben, keine Revolutionen, kein Aufbäumen, keine Unterdrückung, keine gelehrten Abhandlungen über den Ödipuskomplex.

„Wollen Sie mir die Gnade erweisen ?“ Ein erstaunliches Wort. Ein königliches zugleich. Fast nie erwähnt, wenn von Lourdes die Rede ist. Und doch vielleicht eine seiner wichtigsten Botschaften an die Welt.

DIE ZAHL DER HEILUNGEN, die in Lourdes geschehen, ist nicht groß. Das

„medizinische Büro ist streng und un- erbitterlich. Monsieur Lauret, der Präsident des „bureau", steht auf dem Standpunkt, daß er und seine Ärzte Wissenschafter seien, die ohne irgendwelche religiöse Vorurteile ihre Arbeit zu verrichten haben. Vor allem sei es nicht Aufgabe des „bureau", festzustellen, ob ein Wunder vorliege, das könne nur die Kirche. Aufgabe des „bureau“ sei lediglich, nachzuweisen, ob eine Heilung auf natürlichem Wege erklärbar sei oder nicht. Unter den 20.000 Kranken, die zum Beispiel 1949 nach Lourdes kamen, wurden 14 Heilungen festgestellt. Von diesen waren aber nur sieben durch Zeugnisse und Röntgenbilder einwandfrei beglaubigt. Nur diese sieben durften sich nach einem Jahr wieder zu einer Kontroll- untersuchung melden. Drei davon wurden schließlich nur als Fälle anerkannt, deren vollständige Heilung von der Krankheit, derentwegen die Kranken nach Lourdes gekommen waren, absolut und einwandfrei feststand. Das heißt, „mit natürlichen Mitteln nicht erklärbar waren".

Von 20.000 Kranken drei geheilt. Kaum ein hundertstel Prozent. Voller Hoffnung kämen diese Kranken mit ihren Hoffnungslosigkeiten. Und die meisten fahren mit ihnen zurück. Dennoch auf ihrem Antlitz ein Stück Trost, ein Stück Freude. Die auch die kleine Bernadette immer besaß, trotzdem die Dame von Massabielle die Worte zu ihr sprach: „Ich kann nicht versprechen, Sie auf dieser Welt glücklich zu machen."

SELTSAM SIND die Gesichter der Menschen vor der Grotte von Massabielle. Der blinden Kinder, der Krüppel, die auf ihren Wagen gebracht wurden deren verkrümmtes Rückgrat ihnen manchmal nur erlaubt, mittels eines Spiegels einen Blick auf die Grotte zu werfen, all der ändern, die hier stehen, knien, äußerlich anscheinend gesund, aber sicherlich beladen voll den Mühseligkeiten dieser Welt. Keine einzige Träne ist zu sehen, die über die Gesichter dieser Menschen rennen würde. Nur tiefer Ernst blickt aus den meisten Augen. Und doch viel Hoffnung. Und viel stille Freude zugleich. Freude, weil man vielleicht endlich einmal im Leben, nicht ganz allein ist. Weil man reden kann über Dinge, die man sonst immer verschweigen muß. Weil man endlich reden kann, über alle Hoffnungslosigkeiten, alle Enttäuschungen, alle Ängste. Weil man endlich reden kann, ohne die Worte besonders wählen zu müssen. Ohne sie auf die

Waagschale zu legen. Ohne zu denken, daß sie wieder falsch verstanden, falsch ausgelegt werden könnten. Weil man sicher ist, daß „Our Lady" — wie die Engländer die „Dame von Massabielle nennen —, weil die Lady aller Ladies die Worte so aufnehmen wird, wie sie gemeint sind. „Wollen Sie mir die Gnade erweisen ?" Weil endlich die Hoffnungslosigkeiten dieser Welt ihren Schrecken verlieren. „Ich kann Ihnen nicht versprechen, Sie auf dieser Welt glücklich zu machen." Weil man endlich ein Stück Kind werden kann, das man in den besten Minuten seiner Kindheit nicht war. Weil , weil , weil..,

Die Menschen kommen zur Grotte nach Massabielle, voller Hoffnung. Und gehen weg voller Trost. Das ist vielleicht eines der größten Geheimnisse von Lourdes.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung