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Hundert Jahre Lourdes

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Am 11. Februar wird Lourdes hundert Jahre alt sein.

Ich meine nicht den alten Marktflecken zu Füßen der Pyrenäen im Schatten seines wuchtigen Schloßturmes. So bedeutungsvoll seine Vergangenheit sein mag. sie verblaßt vor dem neu erstandenen Ruhm. Noch reckt der Schloßturm seine stolzen Mauern empor; aber das Herz von Lourdes schlägt anderswo. Wer denkt heute noch an die Grafen von Bigorre? Unter Lourdes versteht heute die christliche Welt nur mehr die Stadt Unserer Lieben Frau.

Dieses Lourdes nahm am 11. Februar 1858 seinen Anfang. Unter der Regierung Napoleons III. und dem Pontifikat Pius' IX. erschien in einer Aushöhlung des Felsens von Massabielle die Königin des Himmels zu achtzehn Malen dem bescheidenen Mädchen Bernadette Soubirous. An jenem Tag erhielt Lourdes vom Himmel seine Ehrenurkunde; der Besuch der Jungfrau Maria begründete seine Größe. Das bisher unbeachtete Städtchen ist neben Jerusalem und Rom zu einem der berühmtesten und meistbesuchten Mittelpunkte religiösen Lebens geworden.

Warum ist diese dunkle Grotte zum strahlenden Leuchtturm geworden? Etwa weil sie im Jahre 18 58 den Besuch der Unbefleckt Empfangenen erhielt? Nein. Die Anziehungskraft einer hundertjährigen Erinnerung wäre nicht hinreichend, um eine derart weltumfassende Bewegung zu erklären. Der Grund liegt vielmehr darin: Die himmlische Besucherin ist immer noch da und stets zugegen, unsichtbar, aber gegenwärtig. Lourdes ist andauernde Gegenwart: Die Gegenwart der Mutter, die all ihren Kindern zulächelt.

Schwebt nicht ein Lächeln über dem Anfang der wunderbaren Geschichte der Erscheinungen? Die himmlische Frau begrüßte Bernadette vorerst mit einem Lächeln. Das ist die Sprache, in der sich eine Mutter zu allererst an ihr Kleinkind wendet. Dieses Lächeln gilt einem jeden von uns. „Sie lächelt allen zu“, sagte Bernadette.

Sie hat ein Lächeln für die Sünder. Nie hat sie ihre Augen abgewendet. Wenn sie bisweilen in die Welt blickte, wie uns das Kind berichtet, war das nicht, um mütterlich Ausschau zu halten nach dem verlorenen Sohn und ihre Arme auszubreiten, um ihn liebevoll aufzunehmen? „Ich wußte, daß du zurückkehren wirst, und ich erwarte dich. Geh und wasche dich am Brunnen und nimm deinen Platz im Hause wieder ein!“ -

Dieser Brunnen der Auferstehung, wunderbarer als das Wasser der Piszinen, fließt in den Beichtstühlen von Lourdes, und daß die größten Sünder in ihnen untertauchen, verdanken sie dem gütigen Lächeln' ihrer Mutter, die sie an sich zieht und unter ihren Schutz und Schirm nimmt. Die zahlreichen, die größten und hervorragendsten Wunder von Lourdes sind diese „Große Rückkehr“ ins Haus des Vaters.

Sie hat ein Lächeln für die Kranken. Sie sind der liebste Teil der Familie, und die Mutter verdoppelt ihnen gegenüber ihre Liebeserweise. Sobald sie in Lourdes sind, läßt sie sie spüren, daß sie ihre bevorzugten Kinder sind.

Sie tröstet sie. Nicht mit leeren Worten, sondern indem sie ihnen das Geheimnis des Leidens erläutert. Immer wieder sagt sie ihnen: „Euch zwar nicht in dieser Welt, wohl aber in der anderen glücklich zu machen, das verspreche ich euch.“ Und das Antlitz der Kranken spiegelt Ergebenheit wider, der Schatten der Verzweiflung weicht. Sie werden ihre Krankheit nicht mehr wie eine Last heimtragen, vielmehr als eine Gnade.

Manchmal heilt das Lächeln Unserer Lieben Frau, und es wiederholt sich das Wunder des Blinden„ der sieht, des Gelähmten, der geht, des Sterbenden, der zum Leben zurückkehrt.

„Welcher Ort war je reicher an Wundern?“ Hat man nicht geschrieben, Lourdes sei „die Stadt der Wunder“? Handschrift Gottes, auffällig und unverwischbar sein Wirken bezeugend, leuchtendes Zeichen seiner Gegenwart, aber auch

mitfühlendes Lächeln seiner Mutter: das ist das Wunder von Lourdes. Ein fortwährendes Wunder.

Sie hat ein heilendes Lächeln für leidende Herzen. Man atmet an ihren Füßen den Geruch des Balsams und der Heilpflanzen. Das Streicheln ihrer mütterlichen Hände vernarbt Wunden, die man für unheilbar hielt. Wieviel überwundener Groll, wieviel Trost in Verzweiflung! Wie viele Verängstigte und Lebensmüde fanden in den Armen dieser lieben Mutter von neuem den Mut zum Leben.

Wie fühlt man sich geborgen bei ihr! So sehr, „daß man sich nie entschließt, Lourdes endgültig adieu zu sagen. So sehr, daß man fürderhin nie mehr ganz unglücklich sein kann“, nachdem man in der Grotte die weiße Gestalt mit dem himmelblauen Gürtel betrachtet und am mütterlichen Herzen sich erwärmt hat. Getröstet und voller Vertrauen ziehen die Pilger von dannen. Sie bleiben in den beschützenden Armen der lieben Mutter. Alle Uebel, welche ihren Leib befallen können, die schlimmsten und unsichtbaren Wunden ihrer Seelen streifte das Lächeln jener Mutter, die nur heilen und verzeihen kann.

Sie hat ein Lächeln für die ganze Menschheit. Und deshalb fühlt man sich in Lourdes so geschwisterlich' verbunden. Eine spürbare Menschenliebe umfaßt dort alle.

Diese Brüderlichkeit tritt vor allem im Dienst der Kranken zutage. In Lourdes sind die Kranken „die Adligen“, jeder achtet „ihre hervorragende Würde“. Man wetteifert in Aufmerksamkeit ihnen gegenüber; Menschen jeden Alters und aller sozialen Klassen sind ihnen zu dienen bereit.

Wie in den ersten Jahrhunderten des Christen-

tums übersteigt die brüderliche Gesinnung alle trennenden Schranken. In Lourdes gibt es „weder Heiden noch Juden noch Skythen noch Barbaren, weder Herren noch Sklaven“, nur Kinder derselben Mutter. Gestern vielleicht noch Feinde, sitzen sie hier beisammen am nämlichen Tische, trinken am gleichen Brunnen, nehmen gemeinsam an den Prozessionen teil, alle verbunden in der gleichen Liebe. Jedes Jahr versammeln sich in Lourdes Pilger aus zehn, zwanzig und mehr Nationen. Ein strahlendes Bild der Weltkirche, ein Heim, das jedem offen steht, der da sagen kann: Maria, meine Mutter!

Lourdes ist wahrhaftig die Hauptstadt des christlichen Friedens.

Lourdes, die Mutter mit dem Kinde. Sie hält es nicht in den Armen wie anderswo. Ihre Hände bleiben frei, um uns aufzunehmen und zu heilen. Ihr Kind ist in der Hostie verborgen, und Lourdes ist der Triumph der Hostie, ein immerwährendes Fronleichnamsfest. Den Höhepunkt einer1 jeden Wallfahrt bilden die prächtigen eucharistischen Prozessionen, zu denen die Esplanade den wunderschönen Rahmen spannt. Während der eucharistischen Prozession bleibt

die Gottesmutter allein in ihrer Grotte. Die Ave sind verstummt. Die Stimmen gelten einzig dem Allerheiligsten. Die Mutter tritt in den Hintergrund; sie schickt alle ihre Kinder zum königlichen Geleite ihres göttlichen Sohnes.

Glücklich, Ihm mit unzählbaren Stimmen huldigen zu hören, verbindet sie ihr Flehen mit den Bitten des Volkes.

Nichts fehlt so dieser Wallfahrtsstätte, weder die Mutter noch ihr Sohn, auch nicht die liebliche Schwester: Bernadette. Jeder fühlt sich geborgen, alles ist dort Lächeln und Gnade. In Lourdes fühlt sich jeder daheim, denn alle sind bei ihrer Mutter und durch sie geführt zum Vater des Erbarmens.

Am 11. Februar 1958 wird Lourdes hundert lahre alt.

Man hat zwar vor Zeiten gesagt, das Ende stehe Lourdes bevor, und die Unkundigen sprachen von seinem Niedergang. Wir kennen die Antwort der Tatsachen. Heute ist Lourdes lebendiger denn je. Lourdes bleibt eine Heimstätte der Christenheit. Es verdankt dies der Gegenwart der Mutter, die ein Lächeln hat für alle ihre Kinder.

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