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Akten über das Lourdes-Mirakel

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Am 11. Februar 1858 erschien der kleinen Bernadette Soubirous zum erstenmal die heilige Jungfrau in der Grotte am Ufer des Gavę. je näher die hundertste Jährung dieses Tages rückt, um so mehr beschäftigt sich die Oeffentlichkeit mit Lourdes, das heute zu den bedeutendsten Zentren katholischer Glaubenskundgebungen zählt. So kursierte vor noch gar nicht langer Zeit eine Nachricht, Papst Pius XII. werde an der Hundertjahrfeier in Lourdes teilnehmen. Wie nicht anders zu erwarten, dementierte der „Osservatore Romano“, das Organ des Vatikans, dieses Gerücht: Die Strapazen der weiten Reise würden die zarte, anfällige Gesundheit des noch vor drei Jahren sterbenskranken Heiligen Vaters ernstlich gefährden Es wurde jedoch bestätigt, daß sieben Millionen Katholiken, Hunderttausende aus Uebersee, im kommenden Jahr nach Lourdes strömen werden.

Also-eine noch 'größere Pilgerschar als Rom sie im Heiligen Jahr sah. Lourdes ist nur eine kleine Stadt mit 15.000 Einwohnern. Sie wird 1958 täglich 20.000 bis 120.000 Pilger beherbergen. Um den gewaltigen Zustrom bewältigen zu können, sind die Organisationskomitees bereits in voller Tätigkeit, ln fünf Kontinenten werden Schiffs- und Flugkarten gebucht. Kardinal Spellman führt den ersten amerikanischen Pilgertransport an.

Da sich die Rosenkranzkirche für die Andachten als zu klein erweist und die Pilger nicht den Unbilden der Witterung im Freien ausgesetzt sein sollen, wurde eine unterirdische Basilika erbaut. Ein 200 Meter langer, 60 Meter höchstbreiter Raum, ohne Pfeiler und Stützen, wird auf der 12.000 Quadratmeter großen Fläche 2 0.0 00 Menschen vereinigen. Eine Klimaanlage modernster Art regelt die Zufuhr und Temperierung der Luft. Der einzige Altar befindet sich im Zentrum. Der Raum hat die Form eines Fisches: das Symbol des Glaubensbekenntnisses der ersten Christen. Diese neue Kirche wird am 1. Februar des kommenden Jahres eingeweiht werden und trägt den Namen Pius X„ des letzten kanonisierten Papstes. Die Kosten des Baues, rund 100 Millionen Schilling, wurden durch Spenden von Gläubigen aus aller Welt aufgebracht. Sogar die Katholiken der Diözese Madras, Indien, spendeten 80.000 Schilling.

Im Hinblick auf die bevorstehenden Jubiläumsfeierlichkeiten erregt ein Aktenfund beträchtliches Aufsehen. Es handelt sich um d i e Originalprotokolle der Polizeibehörde Napoleons III. über die ersten Verhöre Bernadettes. Bisher war die Geschichtsforschung auf die schriftlichen Ueberlieferungen von Pfarrer Peyra- m a 1 e, Lehrer B a r b e t, Doktor D o u z o s, Steuereinnehmer Estrade und auf die Veröffentlichungen Lasseres angewiesen. Es existiert zwar noch ein kurzgefaßter, von Bernadette persönlich niedergelegter Bericht, doch gerade dieses ungemein wichtige Schriftstück ist völlig unleserlich, da Schwester Elisabeth, die spätere Lehrerin Bernadettes im Kloster der Karitas- und Schulschwestern in Nevers, die Blätter während ihres ganzen Lebens als kostbaren Schatz bei sich trug Durch die wiederaufgefundenen Polizeiprotokolle erfährt nun die Lourdes-Geschichtsforschung eine unverhoffte Vervollständigung.

Bekanntlich erlebte die 14jährige Bernadette — das Protokoll bezeichnet sie als Analphabetin, die nur einige Male dem Katechismusunterricht beiwohnte und die heilige Erstkommunion noch nicht empfangen hatte — die erste Erscheinung in der Grotte von Massabielle am 11. Februar, die zweite am 14., die dritte am 18. Februar 1858. Von da an erschien dem Mädchen die heilige Jungfrau täglich, mit Ausnahme von zwei Tagen, bis zum 4. März. Drei weitere Erscheinungen hatte Bernadette später, aber noch im selben Jahr.

Aus den Polizeiprotokollen geht nun hervor, daß die streng materialistisch eingestellte Polizeibehörde das Hirtenmädchen schon nach der fünften Erscheinung einem scharfen Verhör unterzog. Polize'kommissär J a c o m e t hatte sofort nach Bekanntwerden der „unliebsamen Vorgänge in Lourdes" den Auftrag bekommen, mit dem „argėinišerregenden Aberglauben" energisch aüfzufaümen. Als 'ihm” das nicht gelang, trat der kaiserliche Staatsanwalt D u t o u r, ein fanatischer Liberalist wie Jacomet, auf den Plan. Da die rigorosen Polizeimaßnahmen bei der Bevölkerung auf erregten Widerstand stießen, lauerte Jacomet am 21 Februar dem Hirtenmädchen beim Kirchenausgang auf. Die meisten Kirchenbesucher hatten sich nach Beendigung der Andacht schon verlaufen, als endlich Bernadette erschien, lacomet forderte das ahnungslose Mädchen auf, ihm unverzüglich zu folgen. Der Polizeikommissär brachte sie zum Staatsanwalt Dutour.

Jacomet schrieb das Verhör wortwörtlich nieder. Nach der Aufnahme der Personalien Bernadettes beginnt das Protokoll folgendermaßen:

Staatsanwalt: „Haben Sie die Absicht, weiterhin zur Grotte zu gehen?“

Bernadette: „Ja, Herr, ich habe versprochen, vierzehn Tage lang hinzugehen.“

Staatsanwalt: „Die Polizei hat Ihnen doch gesagt, daß Ihre Vision nur ein Traum ist, um den Sie sich nicht kümmern sollen. Die Barmherzigen Schwestern haben Ihnen dasselbe gesagt. Warum befolgen Sie nicht den Rat? Wollen Sie, daß wir uns mit Ihnen beschäftigen?"

Bernadette: „Ich bin glücklich, wenn ich zur Grotte gehe.“

Staatsanwalt: „Das werden Sie nicht mehr tun, oder wir werden Sie daran hindern.“

Bernadette: „Eine unwiderstehliche Kraft zieht mich hin.“

Staatsanwalt: „Seien Sie vorsichtig! Es sind sehr viele, die Sie und Ihre Eltern verdächtigen, die Leichtgläubigkeit der Leute ausbeuten zu wollen. Auch ich glaube das. Ihre Familie ist sehr arm. Man sieht euch plötzlich inmitten vieler Sympathien, die euch Vorteile verschaffen. Wahrscheinlich habt ihr es auf weitere, noch größere abgesehen. Ich mache Sie aufmerksam: wenn Sie mit Ihren Erzählungen über die Erscheinungen nicht aufrichtig sind und Ihre Verwandten Profit daraus ziehen, setzen Sie sich dem gerichtlichen Einschreiten aus. Es erwartet Sie eine strenge Bestrafung wegen Betruges.“

Bernadette: „Ich erwarte keinen Profit auf dieser Erde."

Unerschüttert durch die Einschüchterungs-

versuche des Staatsanwaltes schilderte nun Bernadette auf die Fragen Dutours die erste und alle weiteren bis dahin erfolgten Erscheinungen. Das Mädchen, das nicht lesen und nicht schreiben kann, ließ sich auch durch das Kreuzverhör nicht verwirren. Ihr Herz ist von einer inbrünstigen Glut erfüllt, ihre Lippen finden erstaunliche Worte.

Trotz der Drohungen des kaiserlichen Prokurators ließ sich Bernadette nicht abhalten, auch in den folgenden Tagen die Grotte zu besuchen. Sie hatte es der Madonna versprochen. Die Bevölkerung folgte ihr auf Schritt und Tritt, um sie vor Belästigungen zu beschützen.

Polizeikommissär Jacomet trug alle weiteren Vorkommnisse in sein Notizbuch ein. Die Seiten sind genau datiert. Wie er es in seinem Uebereifer sogar fertigbrachte, die Menschenmenge \zu zählen, die sich zur Wunderstätte- drängte,, ist unbegreiflich. Am Tag, als der Präfekt von Tarbes dem Bürgermeister von Lourdes, der auf der Seite Bernadettes stand, die scharfe Weisung erteilte, das Hirtenmädchen hinsichtlich ihres Geisteszustandes untersuchen zu lassen, sie eventuell in Haft zu nehmen, notierte Jacomet: „Die Bevölkerung ist aufs höchste gereizt. 6407 Menschen besuchten heute die Grotte.“

Eine ärztliche Kommission untersuchte Bernadette. Das Ergebnis lautete: „Es liegen nicht die geringsten Anzeichen einer geistigen Störung vor.“ Zufolge der Gewaltmaßnahmen des Departementspräfekten kam es zu Unruhen in Lourdes. Der Staatsgewalt gelang es nicht, den Sturm begeisterten Glaubens, der in ganz Frankreich Wellen schlug, zu unterdrücken. Schließlich griff Kaiser Napoleon III. persönlich ein und brachte die über die Stränge schlagenden Zivil- und Polizeibehörden zur Räson. Zum letztenmal machte Jacomet eine Eintragung in sein Notizbuch. Wortkarg schrieb er: „Ich werde wegen des Hirtenmädchens versetzt."

Als der Polizeikommissär nach Alais im Departement Gard abreiste, nahm er alle Aufzeichnungen mit. Nach seinem Ableben lagen die Schriftstücke und das Notizbuch jahrzehntelang verschlossen in einer Kiste, die im Besitz der Familie blieb. Die Angehörigen hatten kein Interesse, an Jacomets Uebereifer zu erinnern, denn von Jahr zu Jahr wuchs die Schar der nach Lourdes strömenden Pilger, die sich vom Wasser der in der Wundergrotte entsprungenen Quelle eine Heilung von schweren Leiden erhofften.

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1939 fühlte sich die Schwiegertochter Jacomets verpflichtet, die wichtigen Aufzeichnungen dem Superior eines Kollegs in Obersavoyen zur weiteren Aufbewahrung zu übergeben. Erst dieser Tage war der Superior berechtigt, das ihm anvertraute Gut dem bekannten Wissenschaftler Abt Laurentin, Lourdes, zur Durchsicht und Vervollständigung der Chronik auszuhändigen.

Die Pariser Zeitungen schreiben, daß den Schriftstücken außer anderem interessanten Material auch Notizen über das erste Interview eines Journalisten mit Bernadette beiliegen. Aus ihnen soll hervorgehen, daß der Sonderberichterstatter des „Courrier Franęais“ — jener Zeitung, die damals aufs heftigste gegen die Erscheinungen in Lourdes Stellung nahm — sich die größte Mühe gab, das einfältige Hirtenmädchen zu einer unbedachten Aeußerung zu verleiten. Als ihm dies nicht gelang, versuchte er es auf andere Weise: „Fahl mit mir nach Paris", machte er ihr ein verlockendes Angebot, „dann bekommst du viel Geld." Bernadette lehnte entrüstet ab.

Ferner erwähnt die Pariser Presse eine den Protokollen beiliegende kurze biographische Erzählung der heiligen Bernadette, die bekanntlich 1 866 dem Orden der Karitas- und Schul- schwesvrn in Nevers beitrat und 13 Jahre später starb.

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