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Mahnung an die Welt

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AN DER ATLANTIKKÜSTE von Hendaye an ider spanisch-französischen Grenze bis nach Biarritz und weiter landeinwärts über Bayonne, Orthez nach Pau hängt fahler Nebel über Hügeln und Wiesen, nur zeitweise durch einen heftigen Windstoß von der Biskaya her zu phantastischen Gebilden geballt und bald wieder zu flatternden Fahnen zerrissen. Ein wehmütiger früher Abend kommt. Im Abteil sitzt ein Eisenbahnbeamter, der bei jedem Halten sich aus dem Fenster beugt und seinen Kollegen vom Dienst begrüßt; sitzt ein junges Mädchen, das „Ciaire-Marie“, die Modezeitschrift, auf den Knien ausgebreitet hat; sitzt ein Arbeiter mit der üblichen Baskenmütze auf dem einen Ohr und liest einen Kriminalroman von Simenon; schläft neben ihm ein weißhaariger Mann. Drei von ihnen, dem Alten, dem Romanleser und dem Mädchen, begegne ich in einem Abteil wieder, nachdem wir in Bayonne in den Zug nach Lourdes umgestiegen waren. Auch im neuen Zug machen sie das gleiche, was sie im alten taten; nur der weißhaarige Mann unterbricht nach einer Viertelstunde sein Nickerchen und zieht aus der Rocktasche eine großformatige Lokalzeitung heraus. Er liest darüber hinweg, daß der Präsident der Republik im Elysee zwölf Mütter kinderreicher Familien empfangen und ihnen Goldmedaillen überreicht hat; er zündet sich eine Gauloise an und murmelt kaum verständlich, halb zu mir gewendet: „C'est le pain pour la peine.“ Nach diesem bitteren Wortspiel „das ist das Brot für die Mühe“ schweigt der Alte hartnäckig wie alle anderen im Abteil. Es ist neun Uhr vorbei, da hebt sich rechts von der Fahrtrichtung heller Schein von Waldbergen ab, taucht die mit hunderten elektrischer Lampen nachgezeichnete Silhouette der Basilika von Lourdes auf, von Flutlicht übergössen: und alle im Abteil stehen auf und schauen stumm hinüber.

LOURDES WAR EINSTMALS DIE HAUPTSTADT der zu der Provinz BoeTftJreliaJn Grafschaft Lavendan. Heute hat die Stadt mit ihren etwa 16.000 Einwohnern am Ufer des Gave du Pau den Ruf des berühmtesten Wallfahrtsortes der Christenheit. Im Jahre 1858 erklärte die damals vierzehnjährige Bernadette Soubirous, Tochter eines Handwerkers in Lourdes, daß ihr zu verschiedenen Malen die heilige Jungfrau in der Grotte von Massabielle erschienen sei. Nach eingehenden Untersuchungen bezeichnete die katholische Kirche im Jahre 1862 die Angaben als glaubwürdig. Wunderbare Heilungen — die einer äußerst strengen ärztlichen Kontrolle unterliegen — folgen. Im Jahre 1933 wurde Bernadette Soubirous heiliggesprochen. Ihr Grab befindet sich freilich nicht, wie man erwarten würde, in Lourdes, sondern in der Kapelle des Klosters Saint Gildart, dem Mutterhaus der Schwestern der Charite von Nevers an der Loire. Es mag manche geben, die dies bedauern. Aber die räumliche Entrückung vermag der Atmosphäre von Lourdes nichts anzuhaben, die Trennung des Persönlichen vom Überweltlichen, die Verdichtung der Transzendenz wird noch erhöht. Man hat vielfach diese Atmosphäre von Lourdes geschildert; aber Worte vermögen hier nichts, bleiben immer nur eine beiläufige Andeutung, und was das ergriffene Herz fühlt, wird es nie sagen können. Jahr für Jahr, Monat für Monat, Tag für Tag wiederholt sich, wenn auch nicht immer in greifbarer Form, ein Wunder, mag es fürs erste auch nur ein Anhauch der Ewigkeit sein, die wir in unserer von Unrast erfüllten, von Furcht und Haß durchwühlten Welt wie ein unverlierbares Geschenk Tausende von Kilometern mit nach Hause nehmen. Die Schätzungen der Pilgerzahlen schwanken; einmal liest man von zwei, ein andermal von drei, und wieder ein anderes Mal von fünf Millionen Pilgern, die Lourdes im Jahre sieht. Ob zwei oder fünf Millionen — das bleibt sich eigentlich gleich. Botschaft bleibt Botschaft.

DIE PLACE PEYRAMALE bildet wohl die Stadtmitte, aber das wirkliche Zentrum liegt im Wallfahrtsviertel, in jenem Bezirk, an dessen Pforten mahnend das Wort „silence“ zu lesen ist. Auf der weiten Esplanade des Processions, der man die links und rechts angebrachten, mit Milchglas verschalten Neonleuchten nachsehen mag, entwickeln sich die berühmten Lichterprozessionen, erklingt das merkwürdig schwermütige Wallfahrerlied, das glücklicherweise noch keinen Symphoniker zu Variationen veranlaßt hat, jenes Lied, das, gleich, in welcher Sprache es eben gesungen wird, sich aus der Ferne anhört wie das Cellothema eines Andantesatzes. Hier, und weniger in der baulichen Lösung der 1889 im byzantinischen Stil erstellten Eglise du Rosaire und der darüber befindlichen gotisierenden Basilika, liegt der Grundton, den die Grotte selbst nächst dem Flußufer zu einem volltönenden Akkord werden läßt. Vor der Grotte, deren Felswände geschwärzt sind vom Rauch der unzähligen Kerzen, die im Laufe eines Jahrhunderts hier gebrannt haben, ist ein mit Bänken umhegtes Rechteck für die Andächtigen ausgespart, innerhalb dessen sich einige Sitzbänke befinden. Man sieht die Pilger kniend, lange im Gebet verharren, die Frauen mit dem traditionellen, vorgeschriebenen Schleier auf dem Kupt, die Männer mit den zusammengeknüllten Baskenmützen in den Händen, wie sie dann, nach verrichteter Andacht, von rechts her an die Felswand treten, mit den Handflächen den Stein streifen, ihn manchmal küssend berühren, und nach links abgehen. Vor der Grotte und ein kleines Stück davon entfernt, bei den Bädern, bietet sich der erschütternde Anblick der in zweirädrigen Wagen herangerollten Kranken. Manches Gesicht — oft ist nur dieses sichtbar — ist so weiß wie das umrahmende Leinen, bläuliche Schatten liegen oft unter den geschlossenen Augen, so daß man vermeint. Tote würden hier verbeigefahren.

WÄHREND DREI TAGEN pulsierte jüngst in Lourdes aber auch unerhört dynamischer Lebenswille. Zum ersten Male in der Geschichte versammelten sich Vertreter der Katholischen Landjugend von fast sechzig Ländern aus fünf Kpntinenten. , Rund J0.000 Mensclien, von Warschau bis Paris, von Den Haag bis Lissabon, von Dakar bis Nairobi, von Montreal bis Buenos Aires, von Manila bis Marseille nahmen daran teil. Dreißigtausend, die in der Woche vorher noch bei der Feldarbeit waren; dreißigtausend, unter ihnen 1300 Vertreter der Katholischen Landjugend Österreichs, die Männer in weißen Hemden mit den KLJ-Abzeichen, die Mädchen meistens in den heimischen Trachten; dreißigtausend Delegierte der Welt, die sich zum ersten Male eines der wichtigsten Themen, wenn nicht das wichtigste der Gegenwart, zum Gespräch zwischen Nationen und Erdteilen gewählt hatten: „Der Hunger in der Welt.“ Um es gleich vorweg zu nehmen: die österreichische Abordnung hat durch ihr diszipliniertes, würdiges Auftreten unter der Führung des Bischofkoadjutors Dr. Franz Zak, Jugendreferenten der österreichischen Bischofskonferenz, und des Weihbischofs Dr. Bruno Wechner sowohl bei der Bevölkerung als auch bei den anderen Nationen außergewöhnlichen Eindruck gemacht. „Autriche! Autriche!“ klang immer wieder die Sympathie für Österreich an unser Ohr, wo immer wir uns zeigten; die Farben Rotweißrot unserer Abzeichen waren demnach wohlbekannt. Daß wir auch das Organisieren verstehen, zeigte, abgesehen von der Leitung der zwei Sonderzüge, das Pressebüro, das in allen sieben Kongreßsprachen mit einem Stab von Sekretärinnen und Dolmetschern arbeitete, B'elinrfg'rapri, Telephonleitungen, Stenotypistinnen für Französisch und Deutsch und Fernschreiber zur Verfügung stellte — der Verantwortliche hieß Bruno Bürstmayr und kam aus Österreich. Als hätten diese jungen Menschen Jahrzehnte lange internationale Konferenzerfahrung — so klappten die Pressekonferenzen, die mehrsprachigen Ausgaben der Reden und Referate.

DIE AUSSTELLUNG DES MIJARC (Mouve-ment International de la Jeunesse Agricole et

Rurale Catholique), des Kongreßveranstalters also, im Musee Notre-Dame am Boulevard de la Grotte in der Nähe der Basilika Pius X., gab einen kleinen Einblick in die Probleme und in die Lage der Landjugend der beteiligten Länder, vorweg jener aus Übersee. Der MIJARC, welcher vor sechs Jahren in Belgien entstanden ist, diese Organisation, deren Statuten 1958 vom Heiligen Stuhl offiziell anerkannt wurden, hat sich dankenswerterweise bemüht, den Delegierten, die eine weite Reise hinter sich hatten, den Aufenthalt in Europa nutzbringend zu machen. Jene Delegierten wurden von den KLJ-Bewegungen Österreichs, Deutschlands, der Schweiz, Frankreichs, Italiens, Spaniens, Portugals und der Niederlande eingeladen und verbringen in diesen Ländern ein mehrwöchiges Praktikum. Diese Erweiterung des Gesichtskreises ist für die jungen Männer und Frauen aus den Entwicklungs-ländern. von .unschätzbarem Wert. Ein eigener Ausschuß innerhalb des Internationalen Kondem Studienprogramm; ein internationales Seminar, das alle Praktikanten vom 10. bis 25. Juli 1960 in Rom zusammenführen wird, dient der Vervollständigung ihrer Ausbildung. So werden beispielsweise zwei Delegierte aus Ceylon vom 25. Juli bis Ende August in Österreich weilen.

DER KONGRESS REDETE ALSO NICHT NUR — obzwar die Forumsdiskussionen von gründlicher wissenschaftlicher Durchbildung zeugten — er handelte und wird noch weiter handeln. Was bei diesem Kongreß freilich in einer Art das Gemüt bedrückte, war dies: Hier ist eine Fülle der Begeisterung, ein alle Sprachen und Hautfarben überstrebender Idealismus am Werk. Hier wurde hundertfach — und ich erlebte es in Gesprächen mit — dargetan, daß die Menschlichkeit und der Glaube, unteilbar verbunden, alle Grenzen sprengen und den Weltfrieden sichern könnten — wenn, ja, wenn diese Delegierten die Macht der Handvoll Großer hätten, die Jahr für Jahr, Monat für Monat sich gegenseitig beflegeln und zum Fenster hinausreden. Es mag ein Zufall gewesen sein, daß ich eines Abends in der Avenue Pierre Laffitte einen Mann die Zeitungsseite lesen sah, auf der oben die Kundgebungen und die Botschaft des Heiligen Vaters mitgeteilt wurden, und nicht weit davon die dreispaltige Überschrift stand: „Entre la guerre et la paix.“ Zwischen Krieg und Frieden! Die Dreißigtausend und mit ihnen Millionen und aber Millionen, die den Boden bebauen und ein offenes Herz für den Hunger der Nächsten haben, für den Hunger des Leibes, aber auch für den Hunger des Geistes, für den Hunger nach Gerechtigkeit („sie hungern vor allem nach Brot, jedoch auch nach Menschenwürde, nach Kultur und Freundschaft und ganz besonders nach Gott“, sagte die Botschaft des Heiligen Vaters an den Kongreß) — diese Menschen stehen vor der größten Aufgabe unserer Zeit. Wer diesen Hunger stillt, der sichert den Frieden. In der Rue de la Grotte habe ich fünf Menschen gesehen. Sie schenkten keinen Blick den fragwürdigen Andenkenläden. Sie tauschten ihre Adressen aus, ihre Abzeichen, die Halstücher, sangen jeder in seiner Sprache „Nous sommes ici“ und „Bonjour“ (Aus aller Welt wir kommen, alle Länder grüßen wir), gingen in einer Linie Hand in Hand. Man lege ein Lichtbild davon in den Staatskanzleien der Welt auf.

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