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Zwei Welten

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Unsere Welt steht heute vor einem unvorhergesehenen und unvorbereiteten Ende der Fortschrittsgläubigkeit. Lange Zeit war man fasziniert von den modernen Errungenschaften der Technik. Man glaubte, das Paradies auf Erden sei vor der Tür. Man brauche diese Tür nur aufzustoßen und auf dem begonnenen Weg gerade fortzuschreiten, dann sei die Lösung aller Probleme nur mehr eine Frage der Zeit. Heute schreckt man vordem Abgrund zurück, der sich hinter dieser vermeintlichen Tür ins Paradies aufgetan hat.

Vor hundert Jahren lebte man in diesem Rausch des Neuen, das eine „Umwertung aller Werte“ herausfor-, derte. Friedrich Nietzsche lehrte den Übermenschen, er forderte: „Einer müßte den Tod töten. Einer müßte der Mörder Gottes sein.“

Vor hundert Jahren, am 16. April 1879, starb in Nevers die junge Ordensschwester Marie-Bernard Sou-birous im Kloster der „Dames de la Charite“. In der großen Welt wurde der Tod dieser 35jährigen Nonne nicht beachtet.

Zwei Jahrzehnte vorher war die Vierzehnjährige plötzlich zur Berühmtheit geworden, war nicht nur in Loutdes bekannt, sondern in ganz Frankreich und über dessen Grenzen hinaus. Damals hatte sie von einer „schönen Dame“ erzählt, die sie in der Grotte von Massabielle gesehen hatte.

Die Erzählungen dieses ungebildeten, asthma-kranken Kindes, das gerade erst mühsam Lesen und Schreiben lernte, wurden zuerst als Phantastereien belächelt, zogen aber dann immer mehr Menschen in ihren Bann.

Um die Wünsche der „Dame“ zu erfüllen, wuchs die kleine Bernadette über sich hinaus, überwand ihre geistige und körperliche Schwäche, Spott, Angriffe der Umgebung, überwand die Angst vor der Verständnislosigkeit kirchlicher Stellen, vor den Drohungen der Polizei. Im Namen der Dame mußte Bernadette fordern, daß in der Grotte von Massabielle eine Kapelle gebaut werde, daß man in Prozessionen dorthin ziehen solle.

„Im Namen der Dame“: Aber den Namen der Dame konnte sie nicht nennen! Bis sich die Unbekannte schließlich bei der 16. Erscheinung, am 25. März 1858, zu erkennen gab: „Ich bin die Unbefleckte Empfängnis.“

Im selben Jahre begann die steile Karriere des genialen Friedrich Nietzsche mit dem Eintritt in die berühmte Schule zu Schulpforta. Der Philosoph, wie Bernadette 1844 geboren, war mit 14 Jahren seinen Altersgenossen geistig weit überlegen -Bernadette war ihrer Krankheit wegen hinter den Gleichaltrigen zurückgeblieben. Das Geschehen an der Grotte hatte sie aus ihrer Unbedeutendheit herausgehoben, mit ihrem Eintritt ins Kloster, 1865, kehrte sie in die Stille zurück.

„Die seligste Jungfrau hat sich meiner bedient, dann aber hat man mich wieder in den Winkel gestellt; und das ist mein Platz! Ich bin glücklich, und dabei will ich bleiben.“

Nietzsche und Bernadette: zwei Welten. Die Hybris der einen erklärt:

„Gott ist eine Mutmaßung - aber wenn es Götter gäbe, wie hielte ich es aus, kein Gott zu sein? Also gibt es keinen Gott.“

Nietzsche endete im Wahnsinn.

Bernadettes Welt ist kein Gartenlauben-Klischee einer „heilen Welt“. Sie kennt Leid und Elend, aber es ist nicht das Letzte. Auf Bernadettes Weg zur Heiligkeit war das wunderbare Geschehen in Lourdes nur der Auftakt. Sie hatte dort den Auftrag bekommen. Buße zu turi, und das Leben der an schwerer Knochentuberkulose Erkrankten war ein Leben der Buße.

Heute liegt ihr unverwester Leichnam im Glassarg der Klosterkirche von Nevers, ein unbeschreibliches Lächeln auf dem Gesicht. Sie hatte den Mut, vor dem großen Gott klein zu sein und sich geborgen zu wissen.

Sie lebt den „kleinen Weg“, den wenige Jahre danach Therese von Li-sieux zur Theologie erhebt. Wir haben die Wahl zwischen diesem kleinen Weg der Gotteskindschaft und der Hybris des Ubermenschen.

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