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Bei der Dame von Massabielle

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„Wieder Wunder in Lourdes?“ lautet die Überschrift eines Artikels in der Grazer „Kleinen Zeitung“ von Ende August, der sich mit der wunderbaren Heilung eines krebskran- ken sechsjährigen Kindes beschäftigt, die auf die Heilkraft des Wassers von Lourdes zurückgeführt wird. Die Nachricht ging durch fast alle Zeitungen der Welt, und fast immer wurde von einem Wunder gesprochen.

Die Zahl der Heilungen, die in Lourdes geschehen, ist nicht sehr groß. Das „Medizinische Büro“, das seit langem eigens dazu eingerichtet wurde, um Heilungen, die sich in Lourdes ereignen, zu überprüfen, ist streng und unerbittlich. Es steht auf dem Standpunkt, daß seine ärztlichen Mitarbeiter Wissenschaftler seien, die ohne Rücksicht auf religiöse Ansichten ihre Arbeit zu verrichten haben. Vor allem sei es nicht Aufgabe des „Bureau“ festzustellen, ob ein Wunder vorliege oder nicht, das könne nur die Kirche. Aufgabe des „Bureau“ sei es lediglich, nachzuweisen, ob eine Heilung auf natürlichem Wege erklärbar sei oder nicht. Die Prüfungen sind sehr streng. Unter den 20.000 Kranken, die noch vor einiger Zeit innerhalb eines Jahres Lourdes aufsuchten, wurden 14 Heilungen festgestellt. Von diesen waren aber nur sieben durch Zeugnisse und Röntgenbilder einwandfrei beglaubigt. Nur diese sieben durften nach einem Jahr sich wieder zu einer Kontrollunter- suchung melden. Nur drei davon wurden schließlich als Fälle anerkannt, deren vollständige Heilung von der Krankheit, derentwegen die Kranken nach Lourdes gekommen waren, einwandfrei feststand, das heißt, „nicht mit natürlichen Mitteln erklärbar ist“.

Somit wurden von 20.000 Kranken nur drei geheilt. Kaum ein hundertstel Prozent. Und dies ist der Durchschnitt in fast all den letzten Jahrzehnten. Voller Hoffnungen kamen und kommen Hunderttausende von Kranken mit ihren Hoffnungslosigkeiten nach Lourdes. Und die meisten fahren mit ihren Krankheiten zurück. Dennoch auf ihrem Antlitz ein Stück Trost, ein Stück Freude. Die auch die kleine Bernadette besaß, trotzdem die Dame in der Grotte von Massabielle die Worte zu ihr sprach: „Ich kann nicht versprechen, Sie auf dieser Welt glücklich zu machen.“ So geschehen wirklich nicht viele Wunder in Lourdes, und doch ist Lourdes immer voller Wunder.

Auch die Landschaft um Lourdes ist nicht „wunderbar“, sondern eher enttäuschend. Sie ist so gar nicht südfranzösisch. In der Nähe von Graz in der Steiermark findet sich ähnliches Hügelgelände. Der Ort ist ein seltsames Gemisch: da ist die alte französische Stadt mit der Mairie — dem Bürgermeisteramt —, der schmutzigen Post, einer häßlichen Kirche, kleinen Häusern, lärmenden Schulkindern, schwatzenden Frauen, würdigen Männern, die nonchalant Apėritifs, in den Cafes schlürfen; einer Stadt, die vor 100 Jahren genauso lebte wie heute. Was mit anderen Worten heißt, daß sie so lebt, als wäre nicht Seltsames in ihrer unmittelbaren Nähe geschehen. Neben der alten Stadt liegt, ebenso abgeschlossen in sich, eine Hotelstadt. Ähnlich den Kurorten, die unj die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts entständen, mit großen luxuriösen Kästen und kleinen, weniger luxurösen Kästen, beide bereit, jederzeit Gäste aufzunehmen. Zu ebener Erde enthalten diese Kästen Geschäft neben Geschäft. Während aber in allen anderen Kurstädten, in Wiesbaden, in Monte- catini, in Montreux, alles Mögliche in diesen Läden zu finden ist, bieten sie in Lourdes nur religiösen Kitsch feil. In ungeheuren Quantitäten, so daß jedem Besucher beim ersten Anblick dieser Berge ein leichter Schock überfällt. Nach der Hotelstadt endlich kommt der „heilige Eezirk“; zuerst ein Park, dann ein riesiger Platz, dann die übereinandergebauten Kirchen in Zuckerbäckerarchitektur. Dann, seitlich von diesen Kirchen, endlich die Grotte von Massabielle. Belassen in dem ursprünglichen Zustand. Das Gestein schwarz von dem

Rauch der Kerzen, die Tag und Nacht in ihr brennen. In einer Nische die Statue, die Vorbild wurde für hunderttausend andere kitschige Statuen. In der Grotte ein kleiner Altar. An einer Wand unzählige Krücken. Uber allem eine seltsame Atmosphäre. Undefinierbar zunächst, ein „Etwas“, das in der Luft liegt. Eine Atmosphäre, die allen soeben gesehenen Kitsch vergessen läßt, die in den Menschen dringt, selbst den Ungläubigen packt

Über dieses Lourdes gibt es natürlich unzählige Broschüren. Besser gęąagt;,,dįę,., Erscheinungen in der Grotte von Massabielle im Jahre 1058. Vielleicht ebenso viele Bücher. In denen alles fein säuberlich aufgezeichnet ist, was sich hier zugetragen hat. Eine genaue Chronik. Geschrieben von Katholiken. Gelesen fast nur von Katholiken. Von denen nach manche bei der Lektüre seufzen. Denn wenn auch alle Darstellung jener Ereignisse, die sich in Massabielle abspielten, immer nur einen schwachen Widerschein der Wirklichkeit abgeben können, so war der Widerschein dieser Bücher besonders matt. Ein glatter Mißerfolg.

Verständlich, daß die „Dame von Massabielle“ eines Tages dieses Mißerfolgs müde wurde und sich einen Herold suchte, der in erster Linie ein großer Künstler war. Dieser Künstler hieß Franz Werfel. Die Entstehung seines Buches über Lourdes ist bekannt. Jenes Buches, in dem nichts Neues über Lourdes steht, in dem keine anderen Ereignisse aufgezeichnet werden, als in den bisher erschienenen. Nur der Stil ist etwas anders. Der Stil eines großen Künstlers, der gläubiger Jude war. Und dessen Buch für Hunderttausende, ja Millionen von Ungläubigen der erste Berührungspunkt mit der Kirche wurde. Es gibt manches Seltsame in Lourdes.

„Seltsam“ ist auch das Leben der kleinen Bernadette Soubirous, der Heiligen von Lourdes. Sie steht in der Mitte zwischen zwei anderen Heiligen, die Frankreich der Welt im 19. Jahrhundert schenkte. Im Jahrhundert des Liberalismus, des Nationalismus, des Fortschritts. Im Jahre 1859, da die kleine Bernadette Soubirous sich anschickte, die Welt zu verlassen und ins Kloster einzutreten, verläßt in dem kleinen Ort Ars Jean Vianney, Pfarrer eben dieses Ortes, endgültig die Welt. Und 20 Jahre später, da die ehemalige Bernadette, jetzt Schwester Bernarde von den Schulschwestem in Nevers, sich zum Sterben anschickt, beginnt ein kleines Mädchen im nördlichen Frankreich sich die ersten Gedanken über jenen Weg zu machen, der sie einige Jahre später in den Karmel von Lisieux führen wird.

Der Pfarrer von Ars war einst bei fast allen Prüfungen im Seminar durchgefallen, kaum ließ man ihn zur Priesterweihe zu. Kaum gewährte man ihm die Jurisdiktion zum Beichtehören, eingedenk seiner schwachen Kenntnisse im kanonischen Recht. Aber seltsam: nicht die berühmten Kanonisten, Dogmatiker, Bischöfe, Kardinale seiner Zeit wurden heiliggesprochen, sondern er, der arme, kleine, durchgefallene Seminarist.

Und die kleine Bernadette Soubirous: Kind armer Leute, ohne besondere Geistesgaben. Sogar eine recht schwache Schülerin. Als sie die Erscheinungen hat, von Kommissionen endlos ausgefragt, daß es ihr fast schon eine Qual wird. Im Kloster nicht immer von ihren Mit- schwestem gut behandelt. Kaum etwas in ihrem Leben, das sie besonders auszeichnen würde. Aber auch sie wird heiliggesprochen und nicht ihre Mitschwestern, die Mitglieder der Kommission, die sie verhörten, oder ihr Pfarrer, ihr Bischof.

Und die kleine Theresia: ein verzärteltes Kind, anscheinend sehr exaltiert als junges Mädchen, das sich frühzeitig den Eintritt in den Karmel erzwingt und darin schon mit 24 Jahren an Tuberkulose stirbt. Kurz vor ihrem Tod hört sie zwei Mitschwestern, die sich darüber unterhalten, was denn die Priorin im Nachruf für die bald Sterbende sagen werde. Denn ihr Leben enthalte so gar keine besonderen Tatsachen. Aber auch diese anscheinend so unbedeutende Schwester Theresia von Lisieux wird heiliggesprochen, und keine ihrer Mitschwestem.

Drei Heilige, die wie in einem seltsamen Stafettenlauf die Fackel der Heiligkeit innerhalb eines Landes und eines Jahrhunderts weiter- reichen. Drei Heilige, die den „kleinen Weg“ zur Heiligkeit gingen. Anscheinend oder sicher ohne besondere Geistesgaben. Aber mit der Glut ihrer Herzen. Drei Heilige, die beweisen, daß es doch in erster Linie immer auf die Größe der Liebe ankommt. Tröstlich für die ungeheure Masse von Menschen das Beispiel dieser drei. Betrüblich, wenn man überlegt, daß nur diese drei Heilige wurden und nicht auch, wie einst Thomas von Aquin, Robert Bellarmin, die großen Theologen, die Dogmatiker, die Kanonisten, die großen Prediger, die Herrschenden ihrer Zeit.

Wunderbares könnte geschehen, wenn sich viele Besucher von Lourdes die Worte zu Herzen nehmen würden, die auf einer steinernen Tafel in Lourdes eingemeißelt sind, jene Worte, die die Dame von Massabielle zur kleinen Bernadette sprach: „Wollen Sie mir die Gnade erweisen“, heißt eines dieser Worte, „durch 15 Tage hierher zu kommen?“ Was wäre aus der Geschichte der Welt geworden, wenn die Herrschenden und Machthaber dieser Welt zu ihren Untergebenen und Mitarbeitern jemals ähnliche Worte gesprochen hätten? Es hätte dann keine Probleme der Macht gegeben, keine Revolutionen, keine Unterdrückung, keine gelehrten Abhandlungen über den Ödipuskomplex.

„Wollen Sie mir die Gnade erweisen … ?“ Ein erstaunliches Wort und ein zutiefst menschliches zugleich.

Fast nie erwähnt, wenn von Lourdes die Rede ist. Und doch vielleicht eine seiner wichtigsten Botschaften an die Welt.

Seltsam sind die Gesichter der Menschen vor der Grotte von Massabielle. Der blinden Kinder, der Krüppel, die auf ihren Wagen hergebracht wurden, deren verkrümmtes Rüdegrat ihnen manchmal nur erlaubt, mittels eines Spiegels einen Blick auf die Grotte zu werfen, all der anderen, die hier stehen, knien, äußerlich anscheinend gesund, aber sicherlich beladen mit den Mühseligkeiten dieser Welt. Keine einzige Träne ist zu sehen, die über die Gesichter dieser Menschen rinnen würde. Nur tiefer Emst blickt aus den meisten Augen. Und doch viel Hoffnung. Und.viel stille Freude zugleich. Freude, weil man vielleicht endlich einmal im Leben nicht ganz allein ist. Weil man reden kann über Dinge, die man sonst immer verschweigen muß. Weil man endlich reden kann über alle Hoffnungs-

losigkeit, alle Enttäuschungen, alle Ängste. Weil man endlich reden kann, ohne die Worte besonders wählen zu müssen. Ohne sie auf die Waagschale zu legen. Ohne zu denken, daß sie wieder falsch verstanden, falsch ausgelegt werden könnten. Weil man sicher ist, daß „Our Lady“ — wie die Engländer die „Dame von Massabielle“ nennen —, weil die Lady aller Ladies die Worte so aufnehmen wird, wie sie gemeint sind. Weil man endlich einem Menschen gegenübersteht, bei dem man vor jeder Treuelosigkeit sicher ist. Weil man sicher ist, nicht als eine „tote Seele“ behandelt zu werden, als ein Bauer, der wie im Schachspiel herumgeschoben und „verheizt“ wird. „Wollen Sie mir die Gnade erweisen … ?“ Weil endlich die Hoffnungslosigkeiten dieser Welt ihren Schrecken verlieren. „Ich kann Ihnen nicht versprechen, Sie auf dieser Welt glücklich zu machen.“ Weil man endlich ein wenig das Kind werden kann, das man in den besten Minuten seiner Kindheit nicht war. Weil… weil … weil…

Die Menschen kommen zur Grotte von Massabielle voller Hoffnung. Und gehen weg voller Trost. Das ist vielleicht eines der größten Geheimnisse dieses Ortes. So ist Lourdes immer voller Wunder.

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