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Der heilige Berg

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DAS RHYTHMISCHE TAK-TAK-TAK DER STUNDENTROMMEL hackt durch die mitternächtliche Stille des Klosters. Ich fahre auf, schlaftrunken taste ich nach den Kleidern, haste über spärlich von Kerzenlicht erhellte, endlose Korridore zum Hof hinunter, der Kirche zu. Aus den dunklen Schatten der Mauern tauchen die Silhouetten der Mönche. Sie finden den Weg sicher auch mit geschlossenen Augen, jede Nacht folgen sie dem Rufe des Holzes. Und dann Duft von Weihrauch, warmes Licht von honiggelben Kerzen, Schimmer von Gold und Ikonen, fremdes Gebet, Klappern der Weihrauchfässer und Gebet, immer wieder Gebet.

Jede Nacht ein anderes Kloster, jede Nacht das gleiche Bild, immer die gleichen mühsamen, meist Versuche bleibenden Kniebeugen, das ewige „Kyrie eleison", immer wieder neu und aufwühlend. Während dieser Stunden wird mir auch stets die ganze Größe dieses Geheimnisses bewußt.

Berg Athos — was wissen wir schon von dieser Welt?

DAS ABENTEUER beginnt mit einem äußerst profanen, aber deswegen nicht minder eindrucksvollen Auftakt auf dem Wiener Südbahnhof, weil es bis Saloniki nirgendwo noch so balkanisch aussieht oder gar zugeht als hier bei der nächtlichen Zugabfahrt.

In Griechenland aber wirken die Geister der Gastfreundschaft so segensreich, daß es dem Wanderer schier unmöglich ist, bis zu einem der Athos-Häfen zu kommen, weil er von einer Einladung in die andere fällt. Dabei knüpft man unzählige Bekanntschaften und Verbindungen an und betritt schließlich das Schiff in Hierissos mit einem guten Dutzend Empfehlungsschreiben, deren Wert nicht abzuschätzen ist. Sicher auch balkanisch, aber nicht im Sinne des eingangs Erwähnten...

Der junge Mönch am Steuer scheint alle Gerüchte über das Sterben des heiligen Berges Lügen zu strafen, und die Handvoll aufgeregter Touristen, die hier als Reisegefährten mit mir die rätselhafte Küste rechter Hand von uns bestaunen, beneidet mich schon jetzt um meine unverhältnismäßig lange Aufenthaltsgenehmigung — keiner von ihnen bekam mehr als fünf Tage gewährt, und ich immerhin, wahrscheinlich auf Grund der Empfehlungsschreiben und der freundlichen Hilfe des Unterrichtsministeriums, drei Wochen. Aber was wollen sie anderseits drei Wochen lang dort machen?

Bei Gott, man wollte fast immer dort bleiben. Schon in Pantokratoros, dem ersten Kloster, das ich aufsuchte, und später immer wieder mußte ich an Fallmerayers Büchlein denken, das schon mit dem Satz beginnt:

„Verlaß die Welt und komm zu uns“, sagen die Mönche, „bei uns findest du dein Glück. Sieh nur dort die schön gemauerte Klause, die Einsiedelei am Berg, eben blitzt die Sonne abendlich in die Fensterscheiben! Wie lieblich das Kirchlein unter Weinranken, Lorbeergehege, Baldrian und Myrten aus dem Hellgrün des laubigen Kastanienwaldes blickt! Wie silberhell es unter dem Gestein hervorsprudelt, wie es murmelt unter dem Oleanderbusch! Hier hast du milde Lüfte und die größten aller Güter — die Freiheit und den Frieden mit dir selbst. Denn frei ist nur, wer die Welt überwunden und seinen Sitz in der Werkstätte aller Tugenden, auf dem Berg Athos, hat.“

Aber schon wenige Seiten später resigniert der Autor, der in eigenartiger Inkonsequenz mir erging es doch nicht anders nicht aufhören kann, die Schönheit des Berges zu loben, mit den Worten: „Der Mensch ist aber nicht zu stillem Genuß, er ist zum Kampf geboren, schweigend eilt er am offenen Tor der Seligkeit vorüber und sucht sich neuen Gram...“

VORERST EINMAL sucht man im Hauptort der Insel, in Karie, das man nach zweistündigem Fußmarsch erreicht, die Polizeistation auf, legt dort die notwendigen Papiere vor und erfährt um 10 Uhr, daß der wegen verschiedener Sonderwünsche unerledigte Rest erst gegen 17 Uhr bereinigt werden könne, weil der Gouverneur bis dahin unerreichbar sei. Mir geht das Wort „ausgedehnter Mittagsschlaf“ durch den Kopf, ich wundere mich im übrigen aber kräftig über mich selbst, weil es zum ersten Male in meinem Leben nicht die Spur an meiner inneren Ruhe rüttelt, daß ich durch eine unerledigte behördliche Sache in meinen Handlungen bestimmt werde. Es geht hier alles „siga-siga“, langsam, sehr langsam, aber so friedlich langsam, fast möchte ich sagen: so zwingend langsam, weil man hier offensichtlich mit anderen Maßen, mit Ewigkeitsmaßen, mißt, daß man sich gelassen in den neuen Stil fügt und wartet.

Die erzwungene Muße läßt den Geduldigen das Phänomen dieses „Undorfes“, wie es Kästner einmal nennt, richtig auskosten. Keine Frau, keine spielenden Kinder, kein Motorenaber doch ein Teil des griechischen Staates ist. An den Regierungsgeschäften nimmt auch ein Vertreter des Staates teil. Die Rechte und Pflichten der Mönche sind in der Katastatikos Chartis enthalten, ihre Rechte gehen auf uralte Privilegien zurück. Die Beschlüsse des Rates bedürfen der Bestätigung des Patriarchen von Konstantinopel und des Parlamentes.

Es gibt praktisch nie Schwierigkeiten, weil sich die Mönche hüten, irgend etwas zu tun oder zu verlangen, was mit dem klösterlichen Leben nicht ganz unmittelbar zusammenhängt. Im Gegensatz zu anderen Zwergstaaten Europas man denkt an Andorra oder San Marino betreibt man hier weder einen Rundfunksender noch gibt man eigene Briefmarken heraus.

Wahrscheinlich ist es diese Haltung, die den Athoswanderer so beglückt und aus ihm fast zwingend einen Athospilger macht: Sie weckt im Besucher das Gefühl, in eine Welt gekommen zu sein, die wirklich und vollständig dem Jenseits zugewandt ist und vom Hier nur das unumgänglich Notwendige in Anspruch nimmt. Oft führt diese Haltung zu Handlungen, die uns zunächst völlig unbegreiflich erscheinen wollen. Beispiele gibt es genug.

AUF DEM WEGE NACH KARIE - die Landschaft ist überwältigend schön, das Klima mild gen stehen. Es erklärt sich dadurch auch die überlegen lächelnde, verzeihende Miene der Herren, die die Besucher durch ihre Schätze führen, die sie wirklich nur über höheren Auftrag und ohne Liebe hüten. Man braucht eine Weile, bis man sich in ihre Gedankenwelt eingelebt hat, zu unverständlich ist diese Haltung für uns. Das endlich auf brechende Verständnis birgt gewisse Gefahren in sich, zumal es durch die milde Luft, das griechische Licht und die herrliche Ruhe der Landschaft mächtig gefördert wird, so sehr gefördert wird, daß man schon nach drei Wochen Aufenthalt eine durchaus mäßige Stadt, wie etwa Saloniki, kaum mehr erträglich findet.

Die Ursache unserer — zumindest anfänglichen — Verständnislosigkeit ist natürlich die Tatsache, daß wir uns den orthodoxen Mönch nach dem Bild seines katholischen Bruders vorstellen — ein Irrtum, der praktisch jedem Athos-Reisenden unterläuft und immer wieder zu Fehlurteilen ärgster Art führt.

Innerhalb des Bereiches der Ostkirche muß man sich dessen stets bewußt bleiben, daß der ursprüngliche, ganz auf Gebet, Meditation und Askese eingestellte Charakter des alten Mönchtums erhalten geblieben ist und nie der funktionellen Aufgliederung in Orden mit verschiedenen, besonderen Aufgabengebieten — von der Mission bis zur Krankenpflege — Platz gemacht hat. So wie die Ostkirche nur eine Art des Mönchsgewandes kennt, nämlich den langen, schwarzen Rasos und die charakteristische, schwarze, randlose, zylindrische Kopfbedeckung, kennt sie auch nur den einen Orden der Basilianer. Aber immer schon war in der Ostkirche das Mönchtum die stärkste Stütze ihres Lebens gewesen — man braucht sich nur an die Zeiten der Bilderstürmer erinnern. Eine Zeit- lang konnte man vom alten byzantinischen Reich als einem „Reich der Mönche" sprechen. Heute hat sich dieses Reich auf drei letzte Stützpunkte zurückgezogen: das ist Mistra, neben dem versunkenen Sparta auf der Peloponnes gelegen, dann Kalabaka, mit den grotesk auf schier unzugängliche Felsen gebauten Meteoraklöstern in Mittelgriechenland, und der heilige Berg in Makedonien.

ZWEIFLER UND GRÜBLER sehen das nahe Ende der tausendjährigen Mönchsrepublik voraus. Der Besucher, voreingenommen durch Berichte über das große Sterben auf der Halbinsel, beeindruckt von der erschütternden Vergreisung der .Tewohner. ist anfänglich geneigt, dieser Meinung beizustimmen. Außerdem sprechen die offiziellen Datenvdie,jüngsten Aufzeichnungen stammen aus dem Jahre 1956 und seither hat sich die Lage wieder bedeutend verschlimmert eine düstere Prognose aus, wie aus der nachstehenden Tabelle leicht zu ersehen ist: geräusch, ja. nicht einmal ein Karren oder ein Wagen — nur bärtige Mönche, Arbeiter und Händler, die hier, in der unmittelbaren Umgebung des Hauptplatzes, ihre Geschäfte betreiben und Andenkenkram und das notwendigste andere Zeug verkaufen.

Nachdem die Formalitäten bei,der Polizei erledigt sind, bekommt man es auch mit den kirchlichen Behörden zu tun, die in einem ansprechenden Gebäude untergebracht sind. Ein freundlicher Sekretär, der jeden Fremden höflich fragt, ob er italienisch spreche, und nach der diesbezüglichen Bejahung erschrocken versichert, er wisse nur äußerst „poco“ davon, händigt mir das „Diamonitirion", die Aufenthaltsgenehmigung, die einem gleichzeitig die unbedingte Gastfreundschaft der Klöster sichert, aus.

In diesem Haus, dem „Protaton", residiert auch der „Hohe Rat" des Berges, der hier jeden Montag und Freitag Zusammentritt, um die Angelegenheiten der Mönchsrepublik zu erledigen, die wohl eine selbständige Verwaltung besitzt, und gesund — kommt man an den Ruinen der Akademie von Vatopädi vorbei. Von einer romantisch bewaldeten Höhe schauen die leeren Fensterhöhlen melancholisch auf das Stammkloster herab. Es war ein vergeblicher Versuch des Eugenius Bulgari, der hier gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine höhere Schule gründen wollte. Wohl schien die rasch auf eine Zahl von 200 Zöglingen anwachsende Schülergemeinde ein echtes Bedürfnis nach einem solchen Institut anzudeuten — die jungen Leute kamen aus der ganzen orthodoxen Welt hierher —, aber die Gefahr dieser Neuerung erschien den Brüdern doch zu groß, und man ruhte nicht eher, als bis Bulgari sein Unternehmen aufgab. Zukunftsbedacht, trugen die schlauen Mönche auch gleich die Dächer ab . ..

Das ist die „selige Ignoranz“, die hier schon immer mit bestem Erfolg gepflegt wurde. Sie erklärt auch, wieso es erst des „Einsatzstabes Rosenberg" bedurfte, bis die Bibliothekare endlich wußten, welche Bücher in ihren SammlunDie Summen aus diesen Jahren ergeben, wenn man alle 20 Klöster in Betracht zieht, einen Rückfall von 3260 auf 814 Mönche, wobei sich, wie gesagt, die Lage bis heute wesentlich verschlechtert hat.

Dennoch überwindet man nach einer gewissen Zeit die Furcht vor dem nahen Tode des Berges. Ist es der unerschütterliche Glaube der Mönche, der, genährt und gestärkt durch die verschiedensten versichernden Prophezeiungen und durch den wohl äußerst spärlichen, aber eben doch vorhandenen Nachwuchs an jungen Menschen, dem Aengstlichen Zuversicht verleiht? Ich weiß es nicht. Jedenfalls ist das Erlebnis einer Athosreise so stark, daß ich, meine Eindrücke beim Lesen des Tagebuches immer wieder erneuernd und festigend, den Mönchen an zuversichtlicher Gewißheit gleichkomme.

Dieses allerletzte Refugium derjenigen, die nicht „schweigend am offenen Tor der Seligkeit vorüberhasten und sich neuen Gram suchen , darf und wird nicht verlorengehen, weil unsere moderne Welt etwas wie den heiligen Berg ganz einfach braucht, um so dringender braucht, als der Fortschritt ohnehin schon mit uns durchzugehen droht.

Auf dem Athos braucht man keinen „Fortschritt" im herkömmlichen Sinn, weil man mit dem Menschlichen allein recht gut durchkommt. Als man 1954 meinte, die allein lebenden Mönche durch die staatlichen Fürsorgeämter in Saloniki erfassen zu müssen, damit sie nicht im Alter etwa der Verelendung ausgeliefert seien, machte man die Feststellung, daß niemand eines solchen Schutzes bedurfte.

Um so dringender braucht man einen Schutz vor allzu vielen Touristen und Neugierigen.

Der heilige Berg wird weiterleben. Wenn mich doch wieder Bedenken überkommen, blättere ich in meinem kleinen Tagebuch. Und dann wird alles lebendig ...

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