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Indien ist heuer Ehrengast der Frankfurter Buchmesse (4. bis 8. Oktober). Der Subkontinent will sich auf der weltgrößten Bücherschau unter dem Motto "Today's India" in seiner ganzen Vielfalt darstellen. Den literarischen wie geistigen Reichtum des Landes betont auch dieses Furche-Dossier: angefangen von der Literatur der "Gebrochenen", wie sich Indiens "Unberührbare" heute nennen, bis hin zur Lebens-, Arbeits-und Gesellschaftsphilosophie von bekannten indischen Autoren wie Vikram Seth und Pankaj Mishra. Redaktion: Wolfgang MachreichDer indische Subkontinent ist ein riesiger Chor an Sprachen, Kulturen, Literaturen - in dem jetzt auch die untersten Kasten ihre Stimmen erheben.

Alle in der Familie gingen arbeiten. Trotzdem reichte es nicht hin, um zweimal am Tag satt zu werden. [...] Das ganze Leben stand im Zeichen der Unberührbarkeit. Niemand sah etwas Verwerfliches darin, einen Hund, eine Katze, eine Kuh, einen Büffel anzufassen, aber jeder körperliche Kontakt mit einem Chuhra (Name einer Unberührbaren-Kaste, Anm.) war von Übel. Die Gesellschaft betrachtete sie nicht als Menschen, sie waren ein notwendiger Gegenstand, den man benutzte und nach Gebrauch wegwarf", schreibt Omprakash Valmiki in seiner in Hindi verfassten Autobiografie "Joothan". Ein kurzer Auszug aus dem Werk erscheint diesen Herbst in der Anthologie "Die Schlaflosigkeit Delhis und andere Wirklichkeiten - Wortreisen durch einen Kontinent" (siehe Buchtipp S. 24)

Literatur der Gebrochenen

Die Literatur der Dalits - der gebrochenen Menschen, wie sich Indiens Unberührbare heute nennen - zählt zusammen mit der Literatur der Adivasis (der Stammesangehörigen) und der Frauen zu den wichtigsten Entwicklungen in der indischen Literatur der vergangenen Jahrzehnte. Während aber von Frauen verfasste Werke inzwischen häufig übersetzt werden, bleiben jene von Dalits und Adivasis weiterhin mehrheitlich unzugänglich für all jene, die nicht die jeweilige Sprache beherrschen - ein Los, das sie mit zahlreichen Autoren und Autorinnen aus diversesten Kasten, Klassen, ethnischen und religiösen Gemeinschaften teilen. "Es ist nun einmal so, dass für englische Texte der Sprung in einen außerindischen, internationalen Kontext und die Übersetzung wesentlich leichter fällt", sagt die Verlegerin Urvashi Butalia, deren Anthologie "Frauen in Indien" auch eine Erzählung einer Adivasi-Frau beinhaltet.

Seit dem großen Erfolg von Salman Rushdies Roman "Mitternachtskinder" 1981 sind vor allem Englisch schreibende und teils im Westen lebende indische Autoren und Autorinnen wie Amitav Ghosh, Vikram Seth (siehe Interview Seite 22), Rohinton Mistry, Vikram Chandra, Pankaj Mishra (siehe Interview Seite 23), Arundhati Roy, Anita Nair oder Gita Mehta weltweit bekannt und übersetzt worden. Ständig kommen neue Stimmen hinzu wie zuletzt Suketu Mehta mit "Bombay - Maximum City (siehe Seite 24) oder Altaf Tyrewala mit "Kein Gott in Sicht (No God in Sight).

23 Sprachen & mehr

"Die in englischer Sprache verfasste indische Literatur hat eine enorme Reife und Zeitbezogenheit. Es ist daher auch nicht überraschend, dass sich der Blick auf Indien richtet", sagt Ritu Menon, Leiterin des Verlags "Women Unlimited" in Neu Delhi. Großes Interesse haben auch Autoren der indischen Diaspora erweckt, wie etwa Shashi Taroor, Chitra Banerjee Divakaruni oder Jhumpa Lahiri.

Doch Englisch ist nur eine von 23 offiziell anerkannten indischen Sprachen, neben denen es Dutzende (oder nach manchen Quellen gar hunderte) weitere Sprachen und tausende Dialekte gibt. "Zwischen Rabindranath Tagore, der 1913 den Nobelpreis erhielt, und Salman Rushdie ... klafft ein enormes Loch in der Rezeption der indischen Literatur", schreibt Michi Strausfeld im Vorwort zu seiner Anthologie "Die Schlaflosigkeit Delhis": "Nahezu nichts wissen wir darüber, was in diesen Jahrzehnten literarisch geschah, aber im Rückblick wird deutlich, dass viele Autoren Weltliteratur schufen - in Urdu, Hindi, Bengali, Malayalam, Kannada, um nur einige der wichtigsten Sprachen zu nennen."

Die Urdu-Literatur eröffnet das Tor in die Welt der nordindischen Muslime nach dem Zusammenbruch des Mogulen-Reiches, einer Zeit, die von wachsenden Spannungen zwischen Hindus und Muslimen gekennzeichnet war und schließlich zur Teilung des Subkontinents und der Gründung von Pakistan 1947 führte. Auf Urdu schrieben Autorinnen wie Quratulain Hyder und Ismat Chugtai, die sich insbesondere auch mit der Lage der Frauen befassten.

Eine Reihe von Sprachen ist heute vom Aussterben bedroht, da nur offiziell anerkannte Sprachen in den Schulen und in der staatlichen Verwaltung benutzt werden dürfen. Diese kleinen und gefährdeten linguistischen Gruppen gehören zumeist zu den sozial und ökonomisch besonders marginalisierten Gemeinden, heißt es seitens der indischen Literaturakademie (Sahitya Akademi). Die Akademie hat daher eigene Projekte zur Dokumentation des reichen - oft mündlich tradierten - literarischen Schaffens von Adivasis und anderen Randgruppen lanciert.

Sprachen ohne Schrift

Die Bedeutung der oralen Traditionen ist vor dem historischen, gesellschafts-und kulturpolitischen Hintergrund des Subkontinents zu sehen. Auch die so genannten Heiligen Schriften wurden über Jahrtausende hinweg mündlich tradiert. Selbst wenn Texte schriftlich niedergelegt wurden, fand ihre Verbreitung mündlich statt. Der Buchdruck begann erst im 19. Jahrhundert eine wichtige Rolle zu spielen. Angesichts einer Analphabetenrate von 40 Prozent sind orale Traditionen bis heute Bestandteil der indischen Kultur. Manche Adivasis haben nicht einmal eine Schrift für ihre Sprache.

Aus der Sicht von ganz unten, aus dem Blickwinkel der Adivasis und der Dalits, sehen Indien und die indische Gesellschaft ganz anders aus als aus der Perspektive der hohen Kasten. Auch die heiligen Schriften der Hindureligionen, die großen Epen und die Texte der klassischen indischen Literatur lesen sich ganz anders. Ständig wiederkehrendes Thema in der Adivasi-und Dalit-Literatur sind die strukturellen Gewalt-und Ausbeutungsmechanismen im tradierten Gesellschaftssystem. Wie die Adivasis aus ihren angestammten Gebieten vertrieben werden, schildert C. K. Janu in ihrer Autobiografie, die sie als des Lesens und Schreibens kaum kundige Frau einem Journalisten erzählt hat und die unter dem Titel "Mother Forest von Malayalam" ins Englische übertragen wurde.

Dalit-Autoren und Autorinnen zeigen in Autobiografien, in Romanen, Erzählungen und Gedichten auf, wie bösartig die Unberührbarkeit - die offiziell längst abgeschafft wurde - konstruiert ist, so dass die hohen Kasten die Dalits jederzeit als Arbeitskräfte benutzen, sie ansonsten aber auf Distanz halten können. Eine größere Anzahl von Dalit-Werken ist aber lediglich aus dem Marathi, Hindi und Tamil ins Englische und Französische übersetzt worden. Über die in anderen indischen Regionalsprachen geschriebene Dalit-Literatur geben nur einzelne Kapitel in Büchern über die Dalit-Bewegungen der jeweiligen Region Aufschluss.

Riesiges Puzzle

Was für die Dalit-Literatur gilt, trifft auch auf das gesamte literarische Schaffen in Indien zu: Es ist kaum möglich, sich einen fundierten Überblick zu verschaffen. Jede Anthologie fügt zu dem riesigen Puzzle der Sprachen, Kulturen und Literaturen des Subkontinents einige neue Teilchen hinzu. Jede Auswahl bleibt damit zwingend subjektiv, keine kann für sich beanspruchen, repräsentativ zu sein. Alle folgen letztlich der Formulierung der Literaturwissenschafterin Michi Strausfeld: "Indiens Literatur ist Plural."

DIE SCHLAFLOSIGKEIT DELHIS UND ANDERE WIRKLICHKEITEN

Wortreisen durch einen Kontinent.

Hg. von Michi Strausfeld

edition die horen 223/2006, 256 Seiten, E 14,-

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