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Probleme des Geschichtsunterrichtes

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Den Erfahrungen 'des abgelaufenen Schuljahres zufolge haben die Geschiditslehrer unserer Mittelschulen mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen, denn der Verpflichtung und dem Lehrziele, die Jugend von der Geschichtsklitterung zu lösen, ihr neben der wieder gelehrten österreichisdien Geschichte ein objektives und tendenzfreies Bild des Weltgeschehens in Vergangenheit und Gegenwart zu entwerfen, standen nicht nur eingehämmerte geschichtliche Vorurteile, sondern auch das Fehlen eines Lehrbuches und der Mangel an Unterrichtsstunden entgegen.

Die Frage des Lehrbuches dürfte erst im Laufe des kommenden Schuljahres gelöst werden, da zur Zeit eine Arbeitsgemeinschaft von Geschichtslehrern mit der Umarbeitung eines alten Lehrbuches befaßt ist. Dieses Lehrbuch ist nur als Übergangshilfe gedacht, bis auf Grund der neuen Lehrpläne gänzlich neue Lehrbücher, die den Erfordernissen der Gegenwart voll gerecht werden sollen, aufgelegt werden können. Allein schon die bloße Umarbeitung, um das zunächst herauszubringende Übergangsbuch abzufassen, erfordert weitgehende Änderungen der vorliegenden Texte: Streichungen und Interpolierungen in den Darstellungen des Altertums und des Mittelalters und eine beinahe vollständige Neufassung der neuen und neuesten Zeit.

Mit dem Lehrbuche ist wieder eine Unter-richtskrücke geboten, die Lehrenden und Lernenden Hilfe leistet. Alles freilich ist damit nicht getan, denn gerade im Geschichtsunterricht wird die Persönlichkeit des Lehrers der ausschlaggebende Faktor bleiben. Gewiß ist der Lehrer durch den L e h r p 1 a n weitgehend gebunden. Umfang des Lehrstoffes, Richtung und Ziel sind ihm gesetzt. Gleichwohl ist der Spielraum zur freien Entwicklung schier unerschöpflidi und bedarf es fortlaufender ernster Arbeit, strenger gedanklicher Zudit und gläubig bejahender Einstellung zu den tragenden Werten in der Geschichte, zur Religion, zur Ethik und zur Soziologie.

Ist Gesdiichte auch keine exakte Wissen-sdiaft wie etwa die Mathematik, sie ist eine Wissenschaft und verpflichtet demnach zur absoluten Wahrhaftigkeit. Der Geschichtslehrer wird sich trotz der Mommsensclien Auffassung, daß der Historiker auch Dichter sein soll, zuvörderst auf den Boden der Tatsachen stellen, allerdings mit dem Wissen und der Einsicht, daß äußeres Geschehen durch tiefe innerliche Zusammenhänge bedingt ist. Daher wird man Geschichte als Totum lehren, abrücken von Zahlentafeln und Schlachtensdiilderun-gen, soweit sie nidit zur Beleuchtung einer Epodie erforderlich sind. Der Krieg darf nicht mehr des Krieges wegen gelehrt und verherrlicht werden, sondern nur als Ausfluß' treibender Kräfte nach der guten Seite hin gerechtfertigt, in jedem anderen Falle aber als destruktive Gewalt bedingungslos verurteilt werden.

Dafür werden im modernen Gesdiichts-unterridit die großen Evolutionen der Menschheit einen ganz anderen Rahmen einzunehmen haben, als etwa nodi vor dreißig Jahren. Damals war man gewohnt, daß an die weit ausgeführte politische oder — noch krasser — Kriegsgesdiichte em' ganz untergeordneter Abschnitt über Wirtschaft, Gesellschaftsordnung und Kultur der abgehandelten Völker angehängt wurde, der bei Zeitmangel einfach entfiel.

So wird es sich beispielsweise als notwendig erweisen, in der Darstellung der Alten Geschichte den Schwerpunkt auf das Geisteswissenschaftliche zu legen, weil wir davon heute nodi mitzehren. Der Ruf, der in den Lehrplänen immer wieder aufklingt, daß der Geschichtsunterricht gegenwartsbezogen sein müsse, wird wohl nicht dahin aufgefaßt werden können, daß, wie in der jüngsten Vergangenheit, die ganze Geschidite auf die Gegenwart zugeschnitten und ihre großen Gestalter in der Einzelperson oder in der Masse der Völker zu verkleideten Zeitgenossen gestempelt werden. Gewiß wird man trachten, die Relation zu unserer Zeit und ihren tragenden Ideen zu finden. Demnach wird uns etwa das Altertum volkswirt-schaftlidi und sozial kein Idealbild bieten, weil seine Grundlage die Sklaverei in allen Spielarten und Abarten bildete, von der Unterdrückung breitester Sdiichten der eigenen Völker zugunsten einer kleinen Mehrheit bis zur Herrenvolkidee auf Kosten unterworfener Kolonialer. Dieser Faden

Real bis zur Vollkommenheit und darum in seinen letzten Konsequenzen äberreal, das Praktisch-Politische überfliegend, wie alle Elemente aus der großen geistig-politischen Erbschaft der Römer — und hierin der katholischen Kirche, der großen Fortsetzung des römischen Imperiumswesens, verwandt — läßt diese Idee in ihrer geistigen Amplitude alles hinter sich; was nationale oder ökonomische Ideologien unserer Tage produzieren können. Sie allein hat eine österreichische Geschichte ermöglicht, die schwer zu schreiben ist, weil sie eine Geschichte fließender Grenzen ist, in der sich aber die Taten der babenbergischen Markgrafen und die der habsburgischen Dynastie, die Taten des Schwertes und der Abwehr, der Kirche und der Expansion, der Kolonisation und der Musik zu einer sehr hohen Synthese verbinden und die, obgleich sie ungeschrieben ist, eine darum nicht minder große geistige Macht ausübt, welche im Laufe der Jahrhunderte stark und beständig wie ein immer und immer wehender Wind in die Poren und ins Mark der südöstlichen Völker eingedrungen ist.

Hugo von Hofmannsthal: „Die österreichische Idee“ zieht sich von Memphis bis Rom. In solchen Abschnitten wird es also besser sein, auf die sozialen Mißstände hinzuweisen und sich dafür mehr deiir.geisteswissenschaftlichen' Zweige zuzuwenden, um so mehr als bei der stiefmütterlichen Behandlung der antiken Sprachen selbst an unseren humanistischen Anstalten die Werke, derentwegen man einst die alten Sprachen erlernte, nur in bescheidenstem Umfange gelesen werden und so dem Historiker das Ausfüllen einer Lücke zufällt, die der Altphilologe schuldlos offen zu lassen gezwungen ist.

In der mittleren und besonders in der neueren Geschichte wird die Wirtschaft s- und Gesell schafts-lehre zum beherrschenden Teil auszubauen sein, wobei die gewaltigen geistigen und sozialen Strömungen entsprechende Berücksichtigung verdienen. Bei der Behandlung des abendländischen Zentralreiches — das als historische Realität natürlich nicht zu umgehen ist — wäre wohl mit der üblichen nurdeutschen Auffassung grundlegend zu brechen und das übernational Tragende herauszuarbeiten, das es ebenso Romanen wie Slawen möglich machte, diesem Gebilde sich einzuordnen und als zugehörig zu betrachten. Jedenfalls ist die Geschichte unserer Länder vom Hochmittelalter ab nicht mehr, wie früher, als ein Appendix der Reichsgeschichte darzustellen, sondern als die führende und treibende Macht, der durch Jahrhunderte das, was man noch Reich nannte, nachgeordnet war.

Der Schwerpunkt wird hier wohl auf jenen Abschnitten liegen, die den Weg ö s t e r r eichs zur Eigenstaatlichkeit und Nation bedingen. Das österreichische Jubiläumsjahr drängt gerade heuer zu besonderer Betonung dieses Bereiches. Das solideste Fundament der vaterländischen Geschichte bildet aber sicher eine sorgfältig dargebotene Heimatgeschichte. Man werfe uns ruhig Lokalpatriotismus vor! Die ihn ausrotten wollten, wußten, was sie damit betrieben. Der föderalistische Zug in unserem Staate datiert nicht von gestern oder heute. Durch Jahrhunderte gab es für die österreichischen Länder kein gemeinsames Band als die Person des Herrschers. Daher hat sich die Eigenart der Länder ebenso wie das Betonen dieser Eigenart tief eingewurzelt. Es ist nicht mehr als billig, daß die Schüler aller österreichischen Mittelschulen über das, was ihnen die Lehrer der einzelnen Länder aus privater Initiative an Lokalgesdiichte vermitteln, hinausgehend das Wesentliche der L ä n-dergeschichte kennenlernen. Nehmen wir nur etwa die so bedeutungsvolle Geschichte Karantaniens, die überaus interessante und komplizierte Landwerdung von Tirol, die eigenwillige Behauptung Salzburgs unter seinen geistlichen Fürsten. Selbstverständlich darf darüber die gesamtösterreichische Geschichte nicht vernachlässigt werden. (Die Ländergeschichte ist ja ein reicher Teil davon.) Kenntnis der Heimat und ihrer Geschichte vertiefen das Heimatbewußtsein und sind eine Grundvoraussetzung bewußter Vater-landstreue.

Wenn wir daneben im Zuge der allgemeinen Entwicklung des Weltgeschehens stärker auf Länder und Völker zurückgreifen, die der Welt tatsächlich das Gesicht gegeben haben, dann entspricht dies von Haus aus der österreichischen Eigenart, unter Überwindung engstirniger nationaler Belange (wozu Alt-Österreich schon durch die Vielfalt der Nationen in seinem Räume verhalten war) eine übernationale Denkweise zu entwickeln und zu hegen, die für das harmonische Zusammenleben aller Völker Verständnis hat. Vereinte Nationen verlangen weltweites Denken und größte Aufgeschlossenheit für die Nöte und Erfordernisse aller. Richtiger Geschichtsunterricht kann hier grundlegende und wertvollste Vorarbeit leisten. Jedoch sei damit nicht gesagt, daß der Österreicher mir Weltbürger sein soll. Zuerst Österreicher und damit das andere.

Das neue Schuljahr wird neue Erfahrungen bringen. Die Schule ist jedoch kein Spielfeld des stetigen Experiments, ihr Boden ist zu sehr mit Pflichten geladen. Ein charakteristischer Zug unserer Zeit ist das immer tiefere Versinken der Menschheit in den Materialismus, Hand in Hand damit in all jene Erscheinungen, die wir als furchtbare Äußerungen der Unmenschlichkeit kennenlernten und lernen. Wenn irgendwo gerade dem Materialismus und seinen Auswüchsen das Wort abgesprochen werden muß, so ist es die Schule, denn hier geht es um das Höchste und Beste, das wir besitzen, die Seele des Kindes. Erfahrungsgemäß zählt das geschichtliche Fach zu jenen, die die Jugend am stärksten fesseln und sich zum Guten und Bösen folgenschwer gebrauchen, aber auch mißbrauchen lassen. Bauen wir auf!

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