Licht ins Dunkel des Hinduismus

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Heinrich von Stietencron, Doyen der Indologie, legt in einem kompakten Büchlein die Grundlagen der Hindu-Religionen dar.

Jeder Indienbesucher kennt das: Lange Schlangen armselig gekleideter Menschen, die sich geduldig vor den Tempeln anstellen, um einen kurzen Blick auf ihren Gott (meist eine Figur aus Stein) zu erhaschen.

Selbst der Ärmste bringt eine Gabe, und seien es nur einige Blüten oder Früchte, die er dem Priester übergibt. Seit 3.000 Jahren steht das Opfer im Zentrum der hinduistischen Religionen; wer seinem Gott ein Opfer darbringt, hegt die Hoffnung, dass seine Gebete erhört werden.

820 Millionen Menschen in Indien, 82 Prozent der Bevölkerung, sind Hindus. In Nepal sogar 89, in Mauritius 52 Prozent. Beachtliche Hindu-Minderheiten leben auf den Fidschi-Inseln, in den karibischen Staaten Guayana, Surinam und Trinidad-Tobago. Hindus gibt es in Bhutan, Sri Lanka, Bangladesh, Malaysia und Singapur. Auch in Südafrika und Kuweit machen Hindus je zwei Prozent aus, wichtige Einwanderungsländer für Hindus sind außerdem die USA, Kanada, Australien und Großbritannien.

Der Hinduismus als Bezeichnung für die Religion der Hindus ist eine englische Erfindung des 19. Jahrhunderts, schreibt Heinrich von Stietencron, Indologe und Religionswissenschaftler an der Universität Tübingen, in seiner neuen, in der "Beckschen Reihe" erschienen kompakten Zusammenfassung "Hinduismus". Englische Beamte fassten das, was sie für zahlreiche Sekten der Inder hielten, in einem Begriff zusammen: "Dass es sich in Wirklichkeit um mehrere Religionen mit zum Teil sehr verschiedenen Vorstellungen handelte, hatte man noch nicht bemerkt, konnte es vielleicht auch nicht gleich bemerken, weil die Anhänger dieser Religionen so selbstverständlich und friedlich miteinander lebten, wie es damals in Europa nicht einmal unter Protestanten und Katholiken, geschweige denn mit Juden oder Muslimen möglich war."

Hindus sind, historisch gesehen, Menschen, die auf dem indischen Subkontinent von ihren Eroberern, den Muslimen, als Nicht-Muslime zur Steuerabgabe gezwungen wurden. (Muslimische Eroberer erreichten Indien bereits zu Beginn des 8. Jahrhunderts.) Ihre religiösen Vorstellungen reichen in die Zeit zurück, als die ursprünglich aus Europa eingewanderten Arier über den Ostiran nach Indien vordrangen. (Arier: eine Selbstbezeichnung, die "edel" bedeutet.) Ihre heiligen Texte, die Veden, lagen zunächst nicht in schriftlicher Form vor: Die Brahmanen (Priester) lernten ihre Hymnen auswendig - 10.417 Verse, insgesamt 153.826 Worte.

Stietencron zeigt im geschichtlichen Teil seines Buches, wie sich Vorstellungen von der Schöpfung der Welt, von der moralischen Verantwortung jedes Menschen ausbildeten und wie - konträr zu europäischen Vorstellungen vom Hinduismus als Vielgötterei - sich zwei klar voneinander unterschiedene monotheistische Religionen bildeten: der Vishnuismus und der Shivaismus. "Die Theologen beider Religionen haben die höchsten Götter anderer Religionen integriert und ihrem Gott untergeordnet." Die großen indischen Tempel sind umgeben von kleineren Anlagen und Wandelgängen, in denen die zu Helfern des einen Gottes herabgestuften "früheren Götter" verehrt werden können.

Nicht umsonst wird der Hinduismus als "Schwamm" bezeichnet, der alles aufsaugt. Stietencron schildert nicht nur die Hauptunterschiede zwischen Vishnuismus und Shivaismus, sondern auch die vielen Zweige dieses reichen "religiösen Baumes": Asketische Richtungen und glühende Volksfrömmigkeit, die Indien noch immer beherrscht. Diese kulturelle Vielfalt wird in jüngster Zeit durch Fundamentalisten gefährdet. Seit der Zerstörung der Moschee von Ayodhya 1992 "ist der so genannte Hindu-Fundamentalismus zu einer dominierenden politischen Kraft in Indien geworden".

Wie gefährlich eine politische Instrumentalisierung religiöser Überzeugungen ist, hat die verschwindende Minderheit der Christen in Indien seither zu spüren bekommen. Kirchen wurden niedergebrannt, Missionare ermordet, Nonnen vergewaltigt. Was auf dem Spiel steht, ist nicht nur die vielgerühmte hinduistische Toleranz, sondern die Chance für die untersten Kasten und die Kastenlosen, ihrem Dasein als Sklaven zu entkommen und durch Schulbildung sozial und ökonomisch aufzusteigen. Das ist nämlich ein wichtiges Motiv der Armen, sich zum Christentum zu bekehren ...

Die Führer Indiens nach der Unabhängigkeit sahen klar, dass eine Politisierung der Religion größte Gefahr für Indien bedeuten würde. Stietencron wagt in dieser Hinsicht keine Prognose, wohin das Land steuert.

Der Hinduismus.

Von Heinrich von Stietencron:. Verlag C. H. Beck, München 2001. 128 Seiten, brosch., öS 108,-/e 7,85

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