"Keiner hat ein sicheres Dach über dem Kopf“

Werbung
Werbung
Werbung

Mega-Städte haben Bedarf an Arbeitern. Aber was, wenn sich die Politik nicht darum kümmert, wo und wie die Arbeiter leben, wie etwa in Indien?

Das Gespräch führte Brigitte Voykowitsch

Ravi Srivastava ist Professor für regionale Entwicklung an der Jawaharlal Nehru Universität (JNU) in Neu Delhi. Er ist einer der bekanntesten Experten für die Phänomene Landflucht und Bevölkerungsentwicklung und lehrt auch an den Universitäten Oxford, Amsterdam und Osaka. Er war jahrelang Berater von UNO und Weltbank in sozialen und demografischen Fragen.

Die Furche: Die Binnenmigration in Indien verstärkt sich weiter. Immer mehr Menschen ziehen aus ökonomischen und politischen Gründen in die Städte. Doch die offiziellen Zahlen, die man zu diesem Phänomen findet, sind widersprüchlich. Um wie viele Millionen Menschen handelt es sich?

Ravi Srivastava: Das ist sehr schwer zu ermitteln. Denn viele Binnenmigranten haben in der Stadt keinen festen Wohnsitz. Sie leben je nach Arbeit, die sie finden, in verschiedenen Slums oder direkt am Arbeitsplatz. Meinen Berechnungen nach sind etwa 20 Prozent der arbeitenden Bevölkerung - also 80-90 Millionen Menschen - Saisonarbeiter, die für eine bestimmte Zeit in die Stadt gehen, um dort zu arbeiten, und dann wieder in ihren Herkunftsort zurück kehren. Offizielle Statistiken sprechen aber nur von vier bis fünf Millionen Menschen, diese Zahlen sind viel zu niedrig.

Die Furche: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden etwa in Bombay noch so genannte Chawls errichtet, einfache, aber solide Quartiere für Fabrikarbeiter. Welche Maßnahmen treffen der Staat und die Privatwirtschaft heute für die vielen Migranten?

Srivastava: Im Normalfall keine. Der Staat hat keine Migrationspolitik. Staat und Arbeitgeber wollen nur, dass genügend Arbeiter kommen, um die Wirtschaft in den Städten in Gang zu halten. Doch niemand kümmert sich darum, unter welchen Bedingungen diese Menschen kommen, leben und arbeiten. Bei meinen eigenen Forschungen habe ich Arbeiter getroffen, die seit mehr als 20 Jahren in Delhi leben. Sie ziehen von Baustelle zu Baustelle und wohnen in provisorischen Hütten am Baugelände. Dort sind auch ihre Kinder geboren und herangewachsen. Inzwischen sind manche Kinder verheiratet und führen das gleiche Leben wie ihre Eltern. Sie verfügen über kein Zuhause. Im Grunde unterscheiden sich solche Menschen aber nur wenig von jenen, die in nicht autorisierten Slums leben, dann vertrieben werden, in einem anderen Stadtteil wieder ihre Hütten errichten und dann erneut davongejagt werden. Sie haben kein sicheres Dach über dem Kopf.

Die Furche: Selbst wenn es sich oft um winzige Beträge handelt: Von den Überweisungen der Migranten hängt das Überleben unzähliger Familien am Land ab. Aber kann die Migration längerfristig auch helfen, die Lage in den Dörfern zu verbessern?

Srivastava: Vielleicht punktuell, für manche Familien. Insgesamt aber kann die Migration keinen Ausgleich zwischen den Regionen schaffen. Indien bräuchte hier eine langfristige Politik. Die Bundesstaaten Bihar in der Ganges-Ebene und Orissa in Ostindien zeigen das Problem. In beiden Regionen herrscht große Armut, und es besteht ein akuter Mangel an Arbeitsplätzen. Viele Menschen ziehen weg, um anderswo Arbeit zu suchen. Aber am Grundproblem ändert sich nichts. Die strukturellen Schwächen und die Unterentwicklung bleiben bestehen. Der Staat müsste diese Gebiete gezielt fördern und dort neue Perspektiven schaffen.

Informationen und Links

Megacity-TaskForce

Die International Geographical Union hat eine universitäre Taskforce gebildet und bietet ein breites Spektrum an, Forschungsmaterial, Statistiken und News. Im Internet: www.megacities.uni-koeln.de

UNO-Quellen

UN-Programme, die sich mit Megacities auseinandersetzen: www.unhabitat.org (Siedlungsprogramm), oder unter: www.un.org/esa/population (Agentur für Bevölkerungswachstum)

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung