Kritik allein hilft keinem Hungernden

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Seit dem Tod Mutter Teresas im vergangenen September ist der Medienrummel um die "Missionarinnen der Nächstenliebe" vorbei. Ein Besuch in Kalkutta zeigt: am Leben inmitten der Ärmsten und Todkranken hat sich nichts geändert.

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Seit dem Tod Mutter Teresas im vergangenen September ist der Medienrummel um die "Missionarinnen der Nächstenliebe" vorbei. Ein Besuch in Kalkutta zeigt: am Leben inmitten der Ärmsten und Todkranken hat sich nichts geändert.

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Chatai Ram hatte ehrgeizige Pläne. Von früh bis spät umklammerte der junge Rikschafahrer die abgewetzten Holme des Gefährts und trottete durch die Straßen, um neben seiner Ration Reis und der Miete für die Rikscha ein paar Rupien auf die Seite legen zu können. Als fliegender Händler wollte er sich selbständig machen, bevor seine Lunge nicht mehr mitspielen und ihm der Atem im rußigen Abgasqualm der täglichen Verkehrshölle ausgehen würde. Doch Chatai Ram hatte Pech. Ein unbeleuchteter Bahnübergang, eine Sekunde Unaufmerksamkeit und der Lokalzug von Bihar nach Rajgir überrollte ihn, zermalmte die Rikscha und sein linkes Bein. Notdürftig verbunden, ohne Geld für ein Spital, sein Bein an Hautfetzen hängend, schlug er sich 600 Kilometer durch bis nach Kalkutta, in die Bose Road 54A. Die Ordensfrauen in den blauweißen Saris dort sind rasches Handeln gewohnt. "Sein Bein mußte sofort amputiert werden", erinnert sich Schwester Juditha. Dank der liebevollen Pflege im Prem Dan Center, ein paar Straßen vom Mutterhaus der Missionaries of Charity entfernt, hat Chatai Ram überlebt. "Sobald ich mein Holzbein bekomme", schmiedet er neue Pläne, "werde ich Sandalen herstellen und sie verkaufen."

"Ursache der Armut ist die Selbstsucht" Prem Dan bedeutet Geschenk der Liebe, und die ehemalige Lagerhalle der Farbenfabrik in einer der ärmsten Gegenden Kalkuttas, vor 25 Jahren von den Imperial Chemical Industries an Mutter Teresa verschenkt, trägt diesen Namen zurecht. Vierhundert Alte und Kranke, verwahrlost in den Bahnhöfen aufgelesen, darunter zahlreiche Tuberkulosepatienten, finden auf den schmalen Betten Pflege und Anteilnahme. Auf dem Speisezettel stehen Bananen, Gemüse und Reis, Fisch und Eier, Hühnerfleisch und natürlich Chapatis, die kleinen Fladenbrote aus Weizenmehl. Köstlichkeiten für jene, die gewohnt waren, die Abfälle auf den Straßen nach eßbaren Resten zu durchwühlen.

Auch Shishu Bhavan, das Haus für die Waisenkinder, Kalighat für die Sterbenden oder Gandhiji Prem Nivas mit den Leprakranken sind klingende Namen der Hoffnung in den kontrastreichen Straßen Kalkuttas. Zwischen verfallenen Stadtvierteln, Bretterhütten und Plastikplanen blitzt strahlend weiß die Kuppel des Victoria-Memorials inmitten britisch gepflegter Grünflächen hervor, an den Ufern des trägen gelbbraunen Stromes vollziehen Hindupriester bedächtige Rituale, trotz des Modergeruchs der Armut atmet die Stadt eine kulturelle Vornehmheit.

Doch kein kolonialer Charme deckt die soziale Zerrissenheit der indischen Gesellschaft zu. Während etwa indische Ärzte bei Transplantationen zur Weltspitze zählen, bedeuten Unfälle oder Krankheiten für das Millionenheer der Armen mangels medizinischer Versorgung meist das Todesurteil. Selbst wenn Chatai Ram eines der Spitalsbetten, das laut Statistik pro 1.400 Einwohner vorhanden ist, erhalten hätte, die Operation wäre für ihn unerschwinglich geblieben.

Die gesundheitlichen Folgen der Armut mindern die letzten Lebenschancen. Unterernährung führt durch Vitamin- und Mineralmangel zu Erblindung und Anämie. Der Mangel an reinem Trinkwasser und die katastrophalen hygienischen Verhältnisse vor allem in den Slums der Städte, in denen 50 Millionen Menschen leben, fördern infektiöse Krankheiten, dazu kommt die extreme Luftverschmutzung, Staub und Lärm.

Noch deutlicher spiegelt die Zerrissenheit der Gesellschaft das Kastenwesen, das nach wie vor das soziale und wirtschaftliche Leben und das Denken der Menschen entscheidend prägt. Zwischen den Unberührbaren und der Priesterklasse der Brahmanen fächert sich die Gesellschaft auf, obwohl die Ränder der Kasten schon durchlässiger für soziale Aufstiege geworden sind. Zur Förderung der Angehörigen der niedrigsten Kasten und der Ureinwohner gibt es Quotenregelungen für den öffentlichen Dienst, das Erziehungswesen und die Politik. Diese Quoten sind mittlerweile zu einem Politikum ersten Ranges geworden, da jeder geringste Versuch einer Ausweitung der Schutzbestimmungen auf den erbitterten Widerstand des traditionellen Bildungsbürgertums der Brahmanen und Rajputen stößt, die selbst den Großteil aller gehobenen Positionen innehaben.

Doch Indien wäre nicht Indien, triebe nicht selbst das Kastenwesen mitunter seltsame Blüten: durch die Quotenregelungen verleitet, bestechen manche Angehörigen der hohen Kasten ihre Gemeindevorsteher, ihnen die Zugehörigkeit zu einer niedrigeren Kaste zu "bestätigen", um so in den Genuß reservierter Anstellungen oder Studienplätze zu gelangen.

Als Kontrastbeispiel findet sich das Leben Nirmala Joshis aus einer vornehmen Familie hinduistischer Brahmanen, die, nachdem sie Christin wurde, als Mitschwester der Mutter Teresa ihren Platz an der Seite der Ausgestoßenen, der Sterbenden, der Waisenkinder und Leprakranken fand. Die Dramatik dieser religiösen und sozialen Konversion spiegelt die verbreitete Geschichte über Nirmalas Vater, der mit einem Gewehr in der Hand nach Kalkutta gekommen sein soll, um seine Tochter aus dem Orden zurückzuholen. Da hätte sich Mutter Teresa mit ausgebreiteten Armen schützend vor Nirmala gestellt und den erzürnten Brahmanen zum Einlenken bewegt. Dabei wurde Nirmalas Liebe zu den Armen durch die Erziehung ihrer Eltern grundgelegt, die ihre Kinder stets anhielten, mit anderen zu teilen.

"Unsere Aufgabe ist es, den Ärmsten der Armen sofortige und effektive Hilfe zu geben", beschreibt Nirmala Joshi heute als erste Nachfolgerin der am 5. September 1997 gestorbenen Mutter Teresa die Leitlinie ihres Ordens. Wiederholt sehen sich die Missionarinnen der Nächstenliebe dem Vorwurf ausgesetzt, ihre Überlebenshilfe für die Ärmsten ohne klare gesellschaftspolitische Strategien und kritische Stellungnahmen zu den Wurzeln der Armut auszuüben. Nirmala entgegnet: "Wenn jemand jetzt vor Hunger stirbt, gehen wir nicht kritisieren, sondern helfen ihm sofort. Da hilft im Moment keine Strategie, es hilft nur eines: Gib ihm Essen, sofort."

Den entwicklungspolitischen Disput hält auch Schwester Nirmala für wichtig, überläßt ihn jedoch anderen. Aus einleuchtendem Grund: ein Besuch in den Häusern des Ordens in Kalkutta zeigt, wie hier Schwestern und freiwillige Helferinnen bis an die Grenzen der Belastbarkeit den Leidenden und Sterbenden, den vom Moloch Kalkutta Ausgespuckten ihre menschliche Würde zurückgeben. "Die Ursache der Armut ist die Selbstsucht jener, die sich an Dinge klammern, die sie nicht brauchen, und deswegen haben andere nichts", erzählt mir die kleine, zarte Frau voll innerer Dynamik ihre Sicht der persönlichen Wurzeln der Armut, die hinter den ökonomischen Ursachen liegen, "wenn wir teilen, wird die Armut verschwinden. Unsere spezielle Aufgabe ist es, inmitten der Armen da zu sein. Wir beten und teilen. Kritisieren würde uns dabei nicht helfen."

Der Wechsel vom kontemplativen Zweig des Ordens in New York, den sie seit 1979 leitete, zurück nach Kalkutta an die Spitze der 3.800 Schwestern in 120 Ländern sei ihr nicht leicht gefallen, gesteht die neue Generalsuperiorin, die sich nicht Mutter nennen läßt, aber Kontemplativität und Aktivität hätten beide ihren eigenen Platz in der Gemeinschaft und würden, mit unterschiedlichem Schwerpunkt, von allen Schwestern gelebt.

Das konkrete Zeugnis der Liebe, verbunden mit der persönlichen Glaubwürdigkeit - nur die ärmsten Frauen besitzen wie die Schwestern lediglich zwei Saris und ernähren sich von Reis mit Linsen - trifft mit diesem sich selbst verschwendenden franziskanischen Geist ins Schwarze der gefühlsbetonten indischen Mentalität, die von Liebe inspirierte Handlungen schätzt. Dieses Charisma, den Glauben an Gott in der Sorge für Arme, Kranke und Sterbende zu verwirklichen, spricht besonders Mädchen aus einfachen Verhältnissen ohne viel Schulbildung an, für die "niedrige Dienste" kein Prestigeproblem bedeuten. Zugleich bietet der Orden ein sonst unerreichbares Netz an sozialer Sicherheit.

Trotz der öffentlichen Anerkennung des Lebenswerkes Mutter Teresas ist soziale Verantwortung keine Selbstverständlichkeit für Indiens Entscheidungsträger. Sogar die kommunistische Partei, die seit 1977 im Unionsstaat Westbengalen regiert, segelt bar jeder Ideologie im neoliberalen Trend der wirtschaftlichen Globalisierung. Im Kontrast dazu beklagt der katholische Erzbischof von Kalkutta, Henry D'Souza, lautstark die Ausbeutung der Arbeitnehmer und setzt seine Hoffnungen auf die Entwicklung einer christlich motivierten Sozialpartnerschaft.

Doch noch scheinen industrielle Prestigeprojekte und neuerdings nationaler Rüstungswahn Vorrang zu haben. Mittel, die auch der sozialen Entwicklung dienen könnten, verpufften in den jüngsten Atombombentests. Dabei würden Investitionen in Bildung und Berufsausbildung, vorrangig für Frauen, den Ausweg aus dem Kreislauf von Armut und Kinderreichtum bieten. Auch im Interesse der westlichen Industriestaaten, denn vom Druck einer wachsenden Weltbevölkerung bleibt niemand verschont.

So klopft Kalkutta, Sinnbild und Wirklichkeit täglichen Überlebenskampfes, Stadt der blutroten, als zerstörerische Dimension der Schöpfungskraft verehrten Muttergöttin Kali, auch an die Tore Europas.

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