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Deserteure des Hungers

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Selbst Kalkutta ist ein Schlaraffenland aus der Sicht von ( Dacca und von Chittagong. In den Dörfern von Bangladesch er- ] innern sich Millionen von Menschen an das sorglose Leben als Flüchtlinge in den westbengalischen Lagern. Und der Hunger von 1974 ist nicht leichter ertragbar als es das Wüten der Paki- 1 stanis 1971 war. So zieht es die Menschen aus der Talsohle des Hungers, Bangladesch, in die Metropole der Flüchtlinge, Kalkutta, zurück. Doch der Empfang dort ist jetzt anders, als er es 1971 ‘ war. Die Brüderlichkeitseuphorie von West- und Ostbengalen ist ; in Haß und Mißtrauen zwischen Ost- und Westbengalen umge- ‘ schlagen. Die Westbengalen bieten den vor dem Hunger Geflohe- į nen keine Lager mit gesicherter Verpflegung. Und die ostbenga- c lische Regierung in Datca bezeichnet die Flüchtlinge vor dem Hunger als Deserteure. s

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Selbst Kalkutta ist ein Schlaraffenland aus der Sicht von ( Dacca und von Chittagong. In den Dörfern von Bangladesch er- ] innern sich Millionen von Menschen an das sorglose Leben als Flüchtlinge in den westbengalischen Lagern. Und der Hunger von 1974 ist nicht leichter ertragbar als es das Wüten der Paki- 1 stanis 1971 war. So zieht es die Menschen aus der Talsohle des Hungers, Bangladesch, in die Metropole der Flüchtlinge, Kalkutta, zurück. Doch der Empfang dort ist jetzt anders, als er es 1971 ‘ war. Die Brüderlichkeitseuphorie von West- und Ostbengalen ist ; in Haß und Mißtrauen zwischen Ost- und Westbengalen umge- ‘ schlagen. Die Westbengalen bieten den vor dem Hunger Geflohe- į nen keine Lager mit gesicherter Verpflegung. Und die ostbenga- c lische Regierung in Datca bezeichnet die Flüchtlinge vor dem Hunger als Deserteure. s

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Millionen Deserteure; wer hat hier wen im Stich gelassen? Im Dacca- Club des süßen Lebens der Regierungspolitiker und ihrer Spekulanten empfindet man es peinlich; hier will man die Flucht der „Deserteure“ unterbinden. Im Writers-Building, dem victorianischen Machtgebäude der westbengalischen Regierung, will man die Rückkehr der Ostbengalenflüchtlinge von 1971 verbieten. Doch die Grenze ist lang, verläuft durch den Dschungel, wo Mao-Guerillas und rebellische Stämme den Flüchtlingen weiterhelfen. Und in den Zügen der Northern Railways wirken bei Zöllnern und Gendarmen drei Rupiahs oder drei Takkas mehr als ein Diplomatenpaß.

Im März begann die Flucht. Da waren es noch einzelne Gruppen aus früh heimgesuchten Dörfern. Im Sommer wurde es ein Strom. Die Dörfer in den Hungergebieten von Bangladesch hatten sich aufgelöst.

Die Besitzenden aus den. guten Familien der Muslime und der Hindus versuchten, bei Verwandten in den Städten unterzukommen. Die Spreu zerstob in die Richtung auf die Städte, meistens des Südens und auf Kalkutta ‘zu. Im Herbst ist es dann gelungen, den Strom einzudämmen. In dieser Zeit herrschte auch in einigen Regionen von Westbengalen akute Hungersnot. Dort waren die Flüchtlinge aus Bangladesch von den Einheimischen nicht zu unterscheiden; die Maske des Hungers schafft perfekte Ähnlichkeit. Zusammen flohen dann die Flüchtlinge aus Bangladesch und aus den Hungergebieten in Westbengalen weiter in Richtung Kalkutta. Doch die Berichte über den Hunger in den westbengalischen Gebieten hat die Fluchtbereiten in Ostbengalen ein wenig entmutigt. Und Mujibur Rahman hat ganze Regimenter als Grenzketten aufgeboten. Und im Writers House warf man die Grenzpolizei, soweit sie nicht zur Unterdrückung von Unruhen im Inneren gebraucht wurde, an die Durchbruchstellen entlang der Grenze. Die Maßnahmen drosselten, aber sie unterbanden nicht die Flucht. Kalkutta schwoll noch mit jeder Woche an. Wenn eine Stadt platzen könnte, diese Stadt wäre längst geplatzt.

Zumindest, um zu sterben, sollten die Menschen nicht mehr in die Hauptstadt von Westbengalen kommen. So beauftragte denn die Eisenbahnverwaltung der Northern Rail ways das Zugspersonal, alle Züge nach Kalkutta zu inspizieren; Sterbende sollten auf der nächsten Station abgeladen werden; Und die Regierung gab der Reservepolizei den Auftrag, Menschen, die sich nur noch weiterschleppten, an der Weiterreise auf den Straßen nach Kalkutta zu hindern. Sie wurden von den Gendarmen an den Straßenrand gelegt; von Lastautos eingesammelt und auf Halden zwischen den Dörfern gebracht, wo täglich die Auskocherei hinkommt: 160 Gramm Abfallgetreide, plus 60 Gramm Linsen, verkocht mit Chilli, ergibt 750 Gramm Brei. Als die Masse um die Auskocherei von Sahibganj immer größer und die Rationen immer kleiner wurden, begann dort das Sterben, doch einige schleppten sich wie Fliegen, die mit DDT bespritzt wurden, weiter, bis zum nächsten Gendarmen.

Wo die Hungersnot nicht akut ist,

ist das langsame Sterben an Schwächung durch den Hunger sanft. Dort in den Geländen um die Auskoche- reien von Sahibganj und Kumdibari in Westbengalen sah ich: das Sterben an akutem Hunger ist bis zum letzten Augenblick schmerzhaft. Die hergekommen oder hergebracht worden waren, blieben liegen, wo sie sich hingelegt hatten. Begleitpersonal der Auskochereien brachte ihnen den Brei. Doch es schleppte sie nicht aus der sengenden Mittagshitze in den Schatten. Auch in den Städten, entlang den Flüchtlingszügen, war es so In Gour und in Murshidabad, wi« bei den Auskochereien von Shibganj und von Kumdibari, starben die Menschen tagelang, ausgezehrt vom Hunger und ausgetrocknet von dei Hitze. Denn mit der Auskocherei kam nur selten auch ein Tankwagen mit Wasser!

Von den 10,Millionen Ostbengalen, die 1972 von ihrem Fluchtasyl bei Kalkutta in ihre Heimat zurücktransportiert wurden, sind zumindest zwei Millionen wieder da. Fas1 dieselben, die damals vor den Pakistanis geflohen waren, fliehen heuer vor dem Hunger: Unberühr- bare, die man nach den Religions- massakem von 1947 in Ostpakistan zurückgelassen hatte, die 1971 schutzlos dem Wüten der pakistanischen Soldateska überlassen wurden, die glücklich waren, wenn sie das Leben, ihren einzigen Besitz, durch die Flucht nach Kalkutta retten konnten, die eine für sie paradiesische

Zeit in den Massenflüchtlingslagern der westbengalischen Regierung verlebten, die zurückgeschickt wurden in die Dörfer, wo sie wieder als Hindus dem Haß der Muslime, und als Unberührbare der Ausbeutung durch die Hindus ausgeliefert waren.

1971 ist es verwischt worden, und war es auch unwesentlich, daß fast alle Flüchtlinge aus Ostpakistan in den Lagern von Kalkutta Unberührbare waren. Von den Kastenhindus in den Dörfern im Stich gelassen, oft als Friedensgabe dargeboten, waren sie Freiwild; bevor der Widerstand der Ostbengalen sich erhob, vergewaltigten die pakistanischen Soldaten schon die vogelfreien Mädchen in den Pariasiedlungen von Ostbengalen. Bevor die Mukthi Bailini sich zum Kampf gegen Pakistan sammelten, flohen schon die Unberührteren aus den Dörfern, in Richtung Kalkutta. Dort fanden sie vor den pakistanischen Soldaten und vor den Kastenhindus von Ostben galen Schutz. Die Kastenhindus konnten sich auch unter den Pakistanis ziemlich lange halten. Flohen sie, dann fanden sie in den Büros und in den Institutionen der Bangladesch-Exilregierung in Westbengalen komfortables und guthonoriertes Asyl. Auch 1974 traf die Hungersnot die Parias der Hinduminorität von Bangladesch am frühesten und am härtesten. Sie hatten keine Reserven. Sie konnten nirgendwohin aus- weichen. Sie mußten die vom Hunger selbst heimgesuchten Kastenhindus hungernd bedienen und betreuen. Ich habe mit Hunderten aus Bangladesch in Kalkutta gesprochen. Und auf dem Weg nach Kalkutta. Sie kennen alle den Weg. Sie legen ihn zum dritten Mal zurück: Flucht, Rücktransport, Flucht. Für sie ist es kein Ostbengalen-Schicksal, kein Hinduschicksai in einem Moslemland, sondern Pariaschicksal, wie es das immer war. In Ostbengalen ist es in der Hindudiaspora zur doppelten Last geworden. In Westbengalen bleibt trotz aller Schutzgesetze und eines neuen Geistes in Notzeiten der Paria ein Paria.

Die bis Kalkutta gekommen sind, lagern in den Vororten, in Howrah, in Belur, in Tarkeswar, wo die Reisfelder, die Abfallhalden und die Slums einander den Boden streitig machen. Die Lagerstätten der zuletzt

Gekommenen liegen am weitesten in den Reisfeldern, die zu Morasten verkommen sind. Es ist Dezember. Der Reis ist senfgelb geworden, und selbst in den verschlampten Caddy- feldern liegt ein Teppich reifer Garben über dem fauligen Boden. Die Zeit der Herbstemte ist nah und es heißt, es werde eine gute Ernte sein. Die reife Frucht treibt Angst in die Herzen aller Flüchtlinge. Wenn die Regierung eine gute Ernte erwartet, stellt sie die Auskochereien ein.

Gute Ernte oder schlechte Ernte, niedrige Preise oder Inflationspreise sind bedeutungslos für die zwei Millionen Flüchtlinge aus Bangladesch und für die vier Millionen aus allen Flüchtlingswellen seit 1947 in Kalkutta. Auch bei der besten Erote gibt es für sie keine Arbeit. Auch bei den niedrigsten Preisen können sie sich nichts kaufen. Wenn die Regierung von Westbengalen das Feuer in den Breiküchen ausgehen läßt, verlieren sie ihren letzten Strohhalm. Jetzt ist es aber auch in Kalkutta Winter; es gefriert, nicht, aber die kalte Feuchte zieht durch die Knochen, aus denen das Mark schon geschwunden ist. Jetzt ist nicht die Hitze die Todesursache, sondern die feuchte Kälte. Hunger ist von der Regierung ‘in Kalkutta aus der Reihe der möglichen Todesursachen gestrichen worden.

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