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Wer sind die Bengalen ?

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Als sie Bangia Desh ausriefen, sangen sie die Hymne des Rabin-, dranath Tagore. Unheimlich glatt und atemberaubend schnell ging vor einer teilnahmslosen Welt das Drama des Ausradie- rens eines Volksentscheides durch die Vernichtung des Volkes dem Ende zu. Die Straßen nach Westbengalen waren schwarz von Menschen auf der Flucht. In Kalkutta müssen die Millionen Flüchtlinge aus den Jahren der Religionsmassaker nun ihre Schlafstätten auf der Straße mit den hunderttausenden neuen Flüchtlingen vor dem pakistanischen Militär teilen. Fast alle sind Analphabeten. Aber sie singen die Hymne von Rabindranath Tagore, sie kennen seine Gedichte, Rabindranath aus dem Hause der westbengalischen Feudalherren Tagore hat der Sprache der Bengalen neuen Glanz und neuen Stolz gegeben. Das Bewußtsein der Bengalen folgte der Sprache. Fragt man einen Moslem in Ostpakistan „Wer ist Gründer der Nation?“, dann antwortet er nicht „Jinnah“, er sagt „Rabindranath Tagore“, denn er meint nicht Pakistan, sondern Bengalen.

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Als sie Bangia Desh ausriefen, sangen sie die Hymne des Rabin-, dranath Tagore. Unheimlich glatt und atemberaubend schnell ging vor einer teilnahmslosen Welt das Drama des Ausradie- rens eines Volksentscheides durch die Vernichtung des Volkes dem Ende zu. Die Straßen nach Westbengalen waren schwarz von Menschen auf der Flucht. In Kalkutta müssen die Millionen Flüchtlinge aus den Jahren der Religionsmassaker nun ihre Schlafstätten auf der Straße mit den hunderttausenden neuen Flüchtlingen vor dem pakistanischen Militär teilen. Fast alle sind Analphabeten. Aber sie singen die Hymne von Rabindranath Tagore, sie kennen seine Gedichte, Rabindranath aus dem Hause der westbengalischen Feudalherren Tagore hat der Sprache der Bengalen neuen Glanz und neuen Stolz gegeben. Das Bewußtsein der Bengalen folgte der Sprache. Fragt man einen Moslem in Ostpakistan „Wer ist Gründer der Nation?“, dann antwortet er nicht „Jinnah“, er sagt „Rabindranath Tagore“, denn er meint nicht Pakistan, sondern Bengalen.

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Die in Kalkutta auf der Straße schlafen, haben nur eine kurze Nacht. Am Abend erstirbt das Leben so langsam wie auf dem Boden eines Fischmarktes nach den großen Käufen. Der Morgen steigt erst über dem verfallenen Hafen durch die Nachthitze und zieht dann entlang dem heiligen Fluß Hooghly der Stadt zu. Wenn in der Dämmerung am Flußufer die ersten Scheiterhaufen entzündet werden, räumen auf den Straßen die Menschen ihre Schlafstätten; auf dem Boden des Fischmarktes verkriecht sich, nachdem die Schiffe eingelaufen sind, was aus den Fässern übergequollen ist, vor dem kommenden Tag.

Doch die 800.000 Menschen, die auf den Straßen der neuen Millionenstadt leben, haben in den drei Jahren der Regierung einer linken Einheitsfront im Bundesstaat Westbengalen gelernt, sich nicht wie lädierte Krabben auf dem steinernen

Boden zertreten zu lassen. „Auf den Straßen, die euer Nachtlager waren, könnt ihr am Tage marschieren!“ hat man ihnen gesagt, und: „Diese Straßen sind eure Straßen!“

Deshalb haben die Menschen ihre Schlafstätten geräumt und nicht die Straßen. Über die marschieren sie. Die müssen sie mit den Fahrzeugen teilen, mit einigen Kühen und mit den Kitzen.

Es gibt mehr als ein Dutzend Parteien der Linken. Die stärkste ist linkskommutnistisch und nennt sich Kommunistische Partei — „Marxisten“, und im Untergrund, in den entlegenen Dörfern von Westbengalen und auf der Universität von Kalkutta kämpfen die Mao- „Naxaliten“ gegen alle anderen. Die Naxaliten-Lebensverachtung, eine Mischung aus bodenständigem

Hindu- und Che-Guevara-Todes- mythos, machte den Schrecken zum Alltag. Jede Partei der Linken formt in den Straßen von Kalkutta ihren eigenen Zug, und die Demonstranten fallen übereinander her. Wenn die Marschkolonnen von den Kämpfen zerzaust auf dem Maidann angekommen sind, das ist der größte Platz in allen Städten Indiens, brennt schon die Sonne. Die Kampf-Meetings der zersplitterten Linken lösen sich in Notleider-Picknicks der Arbeitslosen, der Obdachlosen, der Streikenden aius den stillgelegten Fabriken auf. Nur das Singen ist noch kämpferisch. Sie singen die Lieder der bengalischen Rebellion.

Hindubengalen und Muslimbengalen, die einander nach dem Abzug der Briten in gegenseitigen Massakern abgeschlachtet haben, beginnen wieder von einer Bengalen-Brüder- schaft zu sprechen. Die Vergangenheit erscheint ihnen als Verführung und als Verirrung, die Grenze, die sie voneinander trennt, als schmerzhafter Schnitt. Die Heilung der Wunde droht neue Unruhen auszulösen, •hüben und drüben, in Westbengalen und in Ostbengalen.

Aus diesem Subkontinent der 700 Millionen schien mit dem Wahlsieg der Kongreßpartei Indira Gandhis endlich die Epoche der chaotischen Stagnation zu Ende zu gehen und Hoffnung auf eine Entwicklung in Ruhe zu gedeihen.

Die 18 Bundesstaaten der föderativen Republik Indiens haben mit der Wahl das Dunkelmännertum der Hinduzeloten-Partei Jana Sangh und den Links-Chauvinismus der Kommunisten fast einhellig abgelehnt; nur in Westbengalen blieben die Störungsfronten der „Marxisten“ und der Naxaliten. Auch in Pakistan ist gewählt worden, und auch in Pakistan schienen die Wahlen Ruhe zu verheißen. Ganz Ostpakistan entschied für die Awami- Liga, für die friedliche Verwirklichung einer weitgehenden Autonomie der ostpakistanischen Majorität im pakistanischen Staat. In Westpakistan freilich siegte Bhuttos Partei des islamitischen Sozialismus, eine Partei des modisch linksverbrämten Chauvinismus und Islametatismus. Die Awami-Liga forderte bald, was ihrer parlamentarischen Stärke entsprach, nicht nur die Autonomie der Ostbengalen in Ost

Pakistan, sondern auch die Führung einer gesamtpakistanischen Koalitionsregierung. Das bedeutete für das herrschende Militär, daß die Herrschaft hätte abtreten müssen, und zwar zugunsten der „Bengalischen Untermenschen“ aus Ostpakistan.

Das hätte für Bhutto, den früheren Außenminister und den Ehrgeizigsten aller Ehrgeizigen in der asiatischen Politik, eine Rolle als Juniorpartner in einer Regierung des Ostbengalischen Führers der Awami- Liga, Mujibur Rahman, bedeutet.

Für London war Islamabads Gewaltlösung der Kampf eines Mitgliedes des Commonwealth gegen Sezessio- nisten. In Washington galt es, Islamabad, Seato-Mitglied, wenn auch längst eingefrorenes, nicht zu verärgern. Und Peking feuerte politische Breitseiten für Westpakistans Armee „im Kampf gegen eine Handvoll Verschwörer, Abtrünnige, Verräter“. Nur Moskau nahm für die Ostbengalen Partei; Ostbengalen und Westbengalen beherrschen geographisch die Bai von Bengalen. Westbengalen vergaß einige Wochen lang seine eigene Unruhe, und nahm Führer der ostbengalischen Rebellion auf der Flucht auf. Und die Westbengalen liehen ihre fiebrische Kraft den Islambrüdern im Exil, auf daß Bangia Desh im Untergeben den Widerstand leiste, der später den neuen Aufstand legitimieren soll. Neu-Delhi protestierte gegen den Völkermord in Ostpakistan. Doch die Proteste der indischen Regierung waren oft gedämpfter, als die Beschwerden Islamabads gegen die indische Einmengung in pakistanische Angelegenheiten. Die Sorge um die Wirkung von Bangia Desh auf das unruhige Westbengalen brachte Neu-Delhi vor ein Dilemma: EJn schwacher Protest müßte in Westbengalen Empörung auslösen und den neuen Bengalen-Nationalis- mus zu einer Waffe der Marxisten, der Naxaliten machen; ein feuriger

Protest könnte das Feüer von Bangia Desh auch in Westbengalen entfachen.

Das könnte Neu-Delhi schlecht bekommen. Ein dritter Staat auf dem Subkontinent, das Vereinte Bengalen, könnte die Konsequenz sein. Aus der Bengalen-Renaissance entsteht nun auf jeden Fall ein neuer Unruheherd auf diesem gewittrigen Subkontinent. Nichts könnte der indischen Zentralregierun®, der indischen Einheit, gefährlicher werden, als Bangia Desh in Westbengalen als Beginn des gefürchteten Zerfalls der indischen Föderation. Die Sezes- sionisten von Telangana im Süden warten nur darauf.

In Bengalen brach die erste Rebellion gegen die Engländer aus; 1757 zerstörten Bengalen-Haufen unter Führung des Moghul-Nabobs und französischer Offiziere die neugegründete Hauptniederlassung der Ostindischen Handelsgesellschaft: Kalkutta. Nabob und französische Offiziere verkauften der Handelsgesellschaft den bengalischen Sieg. 1905 rebellierten Bengalen, Hindu und Muslims gegen den britischen Beschluß, das unruhige Bengalen zu teilen. Westbengalen wurde der Herd des antibritischen Terrors.

Gandhis Satyagraha, der gewaltlose Widerstand, stand hier nicht hoch im Kurs. Doch in dieser Zeit begann Ostbengalen endlich, demoralisiert, ausgebeutet durch die feudalen Steuerpächterkasten und durch die Jutefabrikbesitzer in Westbengalen, nach dem Eigenen zu suchen und fand es im Islam. Reli,- gionskämpfe sprengten die von Westbengalen strapazierte Bengalen- Bruderschaft und begründeten die neue Islam-Bruderschaft im islamitischen Staat Pakistan. Millionen Hindu-Flüchtlinge aus Ostpakistan lagern auch heute noch, 20 Jahre nach der Vertreibung, auf den Straßen, wahnen in den Slums von Kalkutta. Sie hielten den Haß gegen den Islam wach. Jetzt sind sie die Bürgen der Solidarität mit den Islam-Bengalen im Osten.

Ich kenne keine Stadt, die im Zerfall stärker ist als Kalkutta. Die Studenten äh der aufrührerischen Universität von Kalkutta sind von Marxisten geführt, von verzweifelter Hoffnung getrieben. Der Naxaliten- führer Laxmi (alabasterne Haut, darunter haben Leidenschaft und Darben jedes Gramm Fett verzehrt) sagte mir: „Wir halten die Universität besetzt, wir werden sie wieder verlieren. Wir werden Westbengalen in unseren Händen haben, wir werden es wieder verlieren. Wir werden uns über ganz Bengalen ausbreiten, Westbengalen und ■ Ostbengalen. Dann ist es so weit. Dann verlieren wir keinen Quadratmeter mehr.“

Das war vor den Kämpfen in Ostpakistan. Aber der Naxalit aus der Rajputen-Kriegerkaste spürte, was .jenseits der Grenze sich zusammen- zog und fieberte den Dingen entgegen. Pakistan, das Regime in Islamabad, sei von Peking gestützt, werde von Peking unterstützt, das war mein Einwand. Er löste nicht einmal einen Blick auf das Mao-Bild an der Wand aus: „Wir sind für alles Elend in Ostpakistan verantwortlich. Unsere Revolution ist eine Bengalen- Revolution, Als Helfershelfer der Engländer haben wir vor der Teilung die Muslim in Ostpakistam 200 Jahre lang ausgebeutet. Nach der Teilung hat Westpakistan unsere Rolle übernommen.“

Ostpakistan ist ein Territorium der vernachlässigten Plantagen. Dakka ist eine Stadt, über der ewiger Monsun zu lasten scheint. Die Fabriken im Umkreis der Stadt sind verfallen, ohne Maschinen, ohne Kraftstrom. Es fehlt die Industrie Westbengalens. Westibengalen ist ein Territorium der Kämpfe in den Fabriken und um den Besitz des Bodens. Kalkutta ist die Stadt mit dem verfallenden Hafen. Es fehlt die Jute aus Ostbengalen, den Erzählung gleicht denn auch eher einem ruhigen Fluß als einem aufgewühlten Strombett. In seinen besten Stücken ruft die Sprache durch das Ungefähre ihrer Aussage Ahnungen wach, läßt das Oben und Unten miteinander verwachsen, das Banale und das Ewige sich berühren — eine Sprache, die so vieles verrät und so vieles verschweigt und gerade durch das Verschweigen wieder offenlegt.

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