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Oh Kalkutta! Poesie gegen den Verfall...

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Für Jawaharlal Nehru war Kalkutta die „Stadt der Alpträume und Prozessionen". Rajiv Gandhi nannte sie verächtlich eine „sterbende Stadt". Die ungeliebte Metropole am Ganges erweckt nicht nur Abscheu. Kalkutta ist auch voll Faszination und Poesie.

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Für Jawaharlal Nehru war Kalkutta die „Stadt der Alpträume und Prozessionen". Rajiv Gandhi nannte sie verächtlich eine „sterbende Stadt". Die ungeliebte Metropole am Ganges erweckt nicht nur Abscheu. Kalkutta ist auch voll Faszination und Poesie.

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Ob Straßen, Gassen, Parks, Busse, Tempel oder Wohnungen - nichts in • Kalkutta lädt zu Ruhe ein oder erlaubt ein wenig Intimität. In rastloser Hektik pulsiert dieser Moloch, wächst und wuchert, platzt sichtlich aus allen Nähten. Scheinbar mehr als in den Straßen eines anderen Ballungszentrums Indiens muß man sich hier seinen Weg durch das alltägliche Chaos boxen. Aber doch nur scheinbar, denn auch hier hat irgendwie alles doch eine seltsame Ordnung.

Kalkutta in West-Bengalen gehört mit geschätzten elf Millionen Einwohnern zu den größten Städten der Welt. Sie ist Hochburg der indischen Kommunisten, aber auch Bastion überwältigender Humanität, verkörpert durch Mutter Teresa und ihre „Sisters of Charity". Wo Sichel und Hammer nicht helfen können, wirkt christliche Solidarität. Von hier hat die Nobelpreisträgerin des Jahres 1979 die Welt mit ihren vielen Stützpunkten der Nächstenliebe überzogen. Seit mehr als 40 Jahren lebt und arbeitet die Unermüdliche hier, inmitten unbeschreiblichen Elends und bitterster Armut.

Kalkutta präsentiert sich voll Zwiespältigkeit wie alles in Indien. Die Stadt ist abstoßend und faszinierend, chaotisch und morbid, dann wieder voll Lebenslust und Poesie.

Die „sterbende Stadt" nannte Rajiv Gandhi einst die klimatisch so ungünstig liegende Stadt im Gangesdelta. Die Menschen haben einen Lebensstandard und eine Lebenserwartung, die zu den niedrigsten der Welt gehören. So kennt nicht einmal die Hälfte der Einwohner die „Segnungen" eines Anschlusses an das Wassemetz, die Kanalisation - soweit überhaupt vorhanden - stammt aus den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts. Immer wieder fällt tagsüber der Strom aus. In unzähligen „bustees", wie die Slums überall in Indien heißen, fristen Hundertausende ein armseliges Dasein.

Alles scheint hier zu bröckeln, langsam zu zerfallen. Die alten, britischen Handelshäuser, die Palais, die vikto-rianischen Prachtbauten. Aber sie lassen noch vieles ahnen von Prunk und Glanz der britischen Herrschaft, als Kalkutta das Wirtschafts- und Handelszentrum der Kolonie Indien war. Man kann sich gut vorstellen, wie sie hier gelebt haben, die Ladies und Gentlemen aus dem fernen Europa. Wie sie sich die Zeit vertrieben haben

zwischen Dinnerparties, Geschäften, Polospielen und Flirts. 1912 machten die Briten Delhi zur Hauptstadt. Die Abtrennung Ostbengalens 1947- aus dem Ostpakistan und später Bangladesh wurde - bescherte der Stadt den nächsten Stoß in Richtung Abstieg. Seither hat die Stadt kontinuierlich Einfluß und Ansehen verloren. Geblieben ist eine seltsame Kunst der West-Bengalen, inmitten all dieses Elends zu überleben. Irgendwie und unter allen Umständen.

Die Dunkelheit bricht früh herein hier. Zu den ungefilterten Industrie-und Verkehrsabgasen mischt sich jetzt der beißende Rauch unzähliger offener Feuerstellen am Straßenrand. Hier wird gelebt, gekocht, in Dek-ken gewickelt geschlafen. Der Qualm kratzt und reizt die Schleimhäute westlicher Besucher. Trotzdem läßt sich das abendliche Treiben genießen, das bunte Leben der Händler und Kaufleute, die Unbeschwertheit der kreischenden Kinder. Dazu die für das Straßenbild Kalkuttas so typischen Rikschas mit ihren zurückgeklappten Falt-Dächern. Die Fahrgäste thronen hoch oben, während schweißüberströmte Männer, meist barfuß und barhäuptig, sie hurtig durch das Chaos schleppen.

Geistiges Zentrum

Aber Kalkutta hat auch heitere, schöne und unbeschwerte Seiten. Nicht nur in Form von Sehenswürdigkeiten wie das Victorial Memorial, die St. Pauls- Kathedrale, die ehemalige Prachtstraße Chowringhee, das Great Eastern Hotel oder die exotischen Tempel. Die Stadt ist immer noch, deutlich sichtbar, ein geistiges Zentrum Indiens. Kalkutta ist die Stadt der Dichter und Filmemacher, der Kaffeehäuser und Theater. Sie ist die Stadt des Dichterfürsten und Nobelpreisträgers Tagore, die Stadt von Mrinal Sen oder Satyajit Ray, der beiden berühmten indischen Filmemacher. Heuer im Frühjahr hat der inzwischen verstorbene 71jährige Satyajit Ray den Ehren-

Oskar verliehen bekommen. Hollywood erwies dem kommunistischen Kalkutta seine Reverenz. Hier, im Zentrum des kommunistisch regierten Westbangalen, schrieb und drehte der überzeugte Linke sozialkritische Filme.

Indiens Filmindustrie ist die größte der Welt. Rund 800 Filme werden

jährlich auf den Markt geworfen, 13 Millionen Inder „pilgern" jeden Tag ins Kino. Sie lieben „ihre" Filme mit den dramatischen Liebesgeschichten, Kämpfen, Verfolgungsjagden, Massenszenen.

Kino bietet ihnen alles. Träume, Reichtum, Poesie, Gesang, Tänze, schmachtende Verliebtheit; also alles, was im wirklichen Leben eine Rarität ist. Auf westliche Besucher wirken die typischen Hindi-Filme theatralisch, Gestik und Mimik erinnern an unsere Stummfilmzeit.

Es ist sechs Uhr früh an diesem Samstag. Nur ein schlichtes Holzschild sagt, daß sie hier wohnt: „Mother Teresa S. C."

Wir - eine Gruppe junger Journalisten aus aller Welt -stehen hier oben auf dem Balkon des unscheinbaren, dreistöckigen Hauses und beobachten eine Gruppe Novizinnen. Barfuß und schweigend waschen sie in Zinkeimern emsig Unmengen von Wäsche, walken sie auf dem nackten Steinboden. Plötzlich geht ein Raunen durch die Mädchen, gebannt blicken sie zu uns herauf. Und da kommt sie auch schon. Die kleine Frau mit dem großen Herzen. Der weiße Sari mit den blauen Streifen am Saum ist weltbekannt, ebenso das gütige, runzelig gewordene Gesicht...

Keine Zeit für Plauderei

Mutter Teresa hat nicht viel Zeit. Wofür auch? Sie mag Medienrummel nicht, sie mag auch ihre Zeit nicht mit Journalisten „vertrödeln", sagt mir leise unsere indische Begleiterin. Und so wechselt sie denn auch nur ein paar Worte mit uns, um gleich wieder zu entschwinden. Es gibt Wichtigeres zu tun für sie. Quirlig eilt sie wieder davon, zu „ihren"Armen. Welch eine Frau! Wieviel

Wärme sie -auch bei dieser kurzen Begegnung ausstrahlen kann. Mutter Teresa winkt noch schnell zu ihren Novizinnen hinunter, die ihr spontan begeistert zujubeln, bevor sie endgültig verschwindet. „Wer nichts hat, hat alles", habe ich irgendwo in Kalkutta gelesen und beginne allmählich zu verstehen.

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