Im Land der jungen SUMANGALIS

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Bis zu 150.000 Mädchen leben und arbeiten derzeit unter unmenschlichen Bedingungen in den Kleiderfabriken in Tamil Nadu.

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Bis zu 150.000 Mädchen leben und arbeiten derzeit unter unmenschlichen Bedingungen in den Kleiderfabriken in Tamil Nadu.

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Ich war zwölf, als ich begonnen habe, in der Spinnerei zu arbeiten. Oft 14,16 Stunden am Tag; Sieben Tage die Woche. Wir muss ten in Schichten schlafen, waren in winzige Zimmer gepfercht, die sanitären Anlagen waren schrecklich; manchmal gab es nur eine dünne Suppe zu essen, und in der schwammen Würmer."

Wir sitzen auf den in Indien omnipräsenten stapelbaren Plastikstühlen, die großen Ventilatoren an der Decke des Gemeindezentrums surren laut. Shanti trägt einen wunderschönen dunkelgrünen Sari mit Stickerei, den sie selbst gemacht hat. Zuerst ist ihre Stimme leise, die Erzählung ruft schlimme Erinnerungen wach. Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen: Shanti stammt aus Somanahalli im Distrikt Dharmapuri, einige Autostunden von der rund 300.000-Einwohner-Stadt Erode entfernt. Die heute 19-Jährige wurde damals von einer Nachbarin angeworben. Eine "Sumangali" sollte sie werden, das ist auf Tamil - der vorherrschenden Sprache des südostindischen Bundesstaates Tamil Nadu -der Ausdruck für "glückliche und zufriedene verheiratete Frau".

Shantis Eltern unterschrieben einen Dreijahres-Arbeitsvertrag für ihre Tochter, den sie nicht lesen konnten und auch nicht verstanden. Sie waren froh, eine Esserin weniger im Haus zu haben und sie in einem beschützten Umfeld zu wissen. Eine Ausbildung sollte Shanti machen, so viel Geld verdienen, dass es für ihre Mitgift reichte und in einer Unterkunft mit drei Mahlzeiten am Tag mit gleichaltrigen Mädchen zusammen sein. Die Realität sah anders aus: Die Eltern hatten für die 12-Jährige einen Knebel-und Knechtschaftsvertrag unterschrieben. "Wir wurden ständig überwacht, Pausen gab es unregelmäßig und manchmal auch gar nicht."

Moderne Schuldknechtschaft

"Sumangali" ist in den letzten Jahren zu einem Synonym der modernen Schuldknechtschaft junger Frauen geworden. Geschätzte 100.000 bis 150.000 Mädchen leben und arbeiten derzeit unter unmenschlichen Bedingungen in den großen Stoff-und Kleiderfabriken sowie in den Spinnereien in Tamil Nadu. Dort, in diesem südostindischen Bundesstaat, ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten die größte Konzentration von Spinnereien entstanden. Zentrum der Textilindustrie ist die Stadt Tirupur. Mehr als drei Millionen Einwohner wohnen mittlerweile hier, und immer noch wandern Menschen zu, in der Hoffnung, Arbeit zu finden. Die Infrastruktur ist nicht mit dem Zuwanderungsstrom mitgewachsen.

Mit einem Minibus und der unvermeidlichen Bollywood-Begleitmusik fahren wir hinaus aus Erode und durch kleine Dörfer. Mühsam und lange im voraus geplanter Lokalaugenschein in einigen Spinnereien. Freundlicher Empfang. Klimatisierte Räume. Überall Tee mit Milch. Und misstrauische Manager. Dann werden wir durch Fabrikshallen geführt.

Hitze und Unmenschlichkeit

Unglaublich laut ist es hier. Heiß und stickig. Die Luft voll von winzig kleinen Baumwoll-Partikeln, die sich in der Lunge festsetzen und noch Tage lang kratzen und Reizhusten verursachen. Interessant: kein junges weibliches Wesen ist in einer der von uns besuchten Fabriken zu sehen. Nur ältere Frauen und viele Männer. Sie tragen Schutzkleidung. Allerdings sitzen die gelben Plastikhelme so auf den Köpfen, als würden sie sonst nie getragen und auch die Atem-Masken sehen verdächtig sauber und neu aus. Wenn wir nicht da sind, arbeiten hier wohl mehrere hundert weibliche Teenager -unter menschenunwürdigen Bedingungen.

Keine Pausen, ständige Überwachung, mangelhafte Verpflegung: kein Wunder, dass es zu Krankheiten und Unfällen unter den "Sumangalis" kommt. Die Maschinen sind oft schlecht gewartet, die Einschulung ist mangelhaft; Schutzkleidung selten. Viele leiden unter Rückenproblemen, Lungenkrankheiten, Menstruationsbeschwerden und psychischen Erkrankungen. Wenn ein Mädchen die Arbeit vor Ablauf ihrer vertraglichen Arbeitszeit aus gesundheitlichen Gründen verlassen muss, wird ihr die versprochene Pauschale oft nicht einmal anteilig ausbezahlt, weiß Shanti aus leidvoller Erfahrung."Ich hatte ständig Schmerzen im Unterleib", hatte Shanti bei unserer Begegnung in Erode erzählt. Eines Tages -kurz vor Ende des 3-jährigen Vertrages -wurde sie gekündigt und auf die Straße gesetzt. Entgegen der ursprünglichen Vereinbarung erhielt sie nicht eine einzige Rupie ausbezahlt.

"Vaan Muhil" kämpft gegen diese Missstände. Vaan Muhil heißt soviel wie "bewölkter Himmel" auf Tamil; in einer so trockenen Region wie dem Bundesstaat Tamil Nadu ein Hoffnungszeichen. Die Organisation ermöglicht den Mädchen eine Ausbildung und baut ihr völlig zerstörtes Selbstwertgefühl wieder auf, erzählt ihr Leiter, Arockiasamy Britto. Stellvertretend für viele hat die Organisation die rechtliche Vertretung von einigen betrogenen "Sumangalis" übernommen. Die Mädchen sollen nicht nur ihren versprochenen Lohn für bereits getane Arbeit erhalten, wichtig sei es auch, Präzedenzfälle für andere Opfer zu schaffen, sagt Britto. "Viele der Sumangalis gehören der Kaste der sogenannten "Dalits", der "Unberührbaren" und untersten und somit auch ärmsten sozialen Schicht an und sind besonders leicht auszubeuten", ergänzt der Menschenrechtler.

Mädchen als Belastung

Im Haus von CEEMA, einer katholischen Einrichtung: Mehr als 88 Prozent der Bevölkerung dieses indischen Bundesstaates sind Hindus. Doch mit knapp vier Millionen Christen lebt in Tamil Nadu nach Kerala die zweitgrößte christliche Gemeinde Indiens; und davon wieder ist die Mehrheit römischkatholisch. Die Abkürzung CEEMA steht für "Centre for Education and Empowerment of the Marginalized". Marginalized heißt ausgegrenzt. Daher betreut Father Hendry Lawrence Projekte für HIV-infizierte Babys ebenso wie Mikrokredite für Frauen und Schulungsprogramme für Mädchen. "Vor allem Mädchen werden schnell von ihren Eltern aus der Schule genommen, um Geld zu verdienen. Die Sumangali-Verträge versprechen ihnen nach drei Jahren einen Lohn von umgerechnet rund 300 Euro. Das ist viel Geld für sie! Und weil die Anwerber ihnen quasi das "Blaue vom Himmel" versprechen, hat das Sumangali-System auch weiterhin Bestand", klagt der katholische Geistliche.

Mädchen gelten in Indien prinzipiell als Belastung. Söhne bringen Prestige und eine Braut ins Haus, sie versorgen die Eltern im Alter und vollziehen die letzten Riten nach deren Tod. Mädchen hingegen sind eigentlich ständig in Gefahr, sexuell belästigt zu werden -und teuer. Denn -obwohl offiziell verboten -muss die Familie der Braut weiterhin Dowry/Mitgift an die Familie des Bräutigams zahlen.

"Diese hohen Kosten sind mit ein Grund, Sumangali-Verträge zu unterschreiben", sagt der Soziologe Samuel Asir Raj. Und auch andere Faktoren kämen den Fabriksbesitzern zugute: "Große Firmen verlagern ihre Produktion nach Indien, weil die Arbeit bei uns so billig ist. Hier haben die Arbeiter und Arbeiterinnen keine Rechte, dürfen sich oft nicht gewerkschaftlich organisieren und sind deshalb auch bereit, zwölf bis 16 Stunden pro Tag zu arbeiten."

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