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Gandhi nannte es Sünde

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„Wenn wir einmal tot sind und wenn wir jetzt sorgen, daß nicht so viele Junge nach- kommen, sind wir bald das Muster für Bevölkerungsfragen.” So könnte man den Sinn einer Verlautbarung des südindischen Staates Madras wiedergeben, nach der Madras binnen zehn Jahren einen neuen Weltrekord in der Geburtenbeschränkung auf stellen soll: 15 statt 48 Promille.

Indien hat freilich Weltrekorde nötig, präzise und schnellste Ergebnisse im Aufbau so ziemlich aller Strukturen eines gesunden und lebensfähigen Staates, in der Auffüllung des ungeheuren Unterdrucks einer menschenunwürdigen Lebenshaltung, die bedingt ist durch das Mißverhältnis zwischen Unterproduktion und heilloser Ueber- völkerung. Nehru möchte mit seinen Fünfjahrplänen nicht nur die einzig sachgerechte Haushaltungsform durchsetzen, sondern bewußt auch Moskaus Maulwürfen den Rang ablaufen, die sich längst im ganzen Land festgebissen haben.

Das vordringlichste Problem Indiens aber ist die Uebervölkerung.

Das rapide Wachstum der 400 Millionen scheint jede Besserung der Lage von vornherein utopisch zu machen und jede Wirtschaftshilfe zur Unwirksamkeit zu verdammen. Grund genug, die Bremsen anzuziehen.

1951, zu Beginn der ersten Planperiode, hat man zum erstenmal vom Gesamtstaat aus zaghafte 3,6 Millionen Schilling für Geburtenkontrolle ausgeschüttet; das bedeutet den Bestand von 287 Zentren Ende 1956. Der zweite Plan sieht mehr als 215 Millionen Schilling für den gleichen Zweck vor. Ein konzentrischer Vorstoß von den Zipfeln des Landes — Kalkutta, Delhi und aus dem Süden —, wo drei zentrale Leitstellen neben zwei schon bestehenden medizinischen Schulungszentren in Bombay und Ramajapuram geplant sind, soll das riesige Land in ein Netz von Kliniken einspinnen, das letzte Bauernnest in den Aktionsradius der Propaganda einbeziehen. Nicht als wäre die Idee erst acht Jahre alt. Hohe britische Verwaltungsorgane betrachteten ihre Förderung schon lange zuvor als ihre Pflicht, und seit 1930 kann man von einer starken Bewegung sprechen. Heute aber ist es ein Objekt nationaler Planwirtschaft und internationaler Hilfsprogramme geworden, „eines der wesentlichen ökonomischen Ziele”, wie Minister D. P. Kamarkar sich ausdrückt.

Und die Bevölkerung?

Dem Beschluß der Madras-Regierung liegt das Ergebnis einer einjährigen Enquete in den Entbindungsheimen der Stadt zugrunde: Von nahezu 38.000 Müttern zeigten sich nur 7,3 Prozent an der Propaganda uninteressiert. 1,25 Prozent waren aus religiösen Gründen dagegen. Offizielle Kreise der Bewegung, vor vier Jahren noch über den Mißerfolg der Propaganda bei der Landbevölkerung enttäuscht, erklärten ihre Genugtuung über die Ankündigung eines Vorstoßes in Bombay und Madras. Flugschriften, Plakate, Vortragstourneen von Spezialisten sowie Gratisangebote von Verhütungsmitteln haben hier Dörfer und Kleinstädte für den Generalangriff vorbereitet. Im kommunistischen Staat Kerala plant man finanzielle Staatszuschüsse für Eltern, die sich sterilisieren lassen, und für Aerzte, die dergleichen Operatic nen durchführen.

Der moralische Druck auf die Massen wächst, und alte Widerstände brechen zusammen. Gandhi ist schon lange tot, er nannte es Sünde. Der Hinduismus hat keine stärkeren Argumente als Gandhi und steckt zudem in schwerer sozialer Krise. Von den christlichen Gemeinschaften steht nur die katholische Kirche in einer unveränderten Haltung, während protestantische Kreise längst nicht einer Meinung sind.

Nicht als sei die Kirche blind bevölkerungswütig.

„Es ist ein schweres Unrecht gegen die Kirche”, interpretiert richtig ein Hirtenbrief des Kardinals Gracias von Bombay, „die Kirche hinzustellen, als verlange sie von den Eltern Kinder noch und noch, ohne Rücksicht auf die moralischen, materiellen und sozialen Verhältnisse, in die sie hineingeboren werden .,. Die Kirche gibt zu, daß zeitweilig die persönliche, wirtschaftliche und soziale Lage eine begrenzte Geburtenzahl ratsam und voll gerechtfertigt machen kann in einer partikulären Familie oder Gruppe. Was sie hingegen nicht unterstützen will, ist der Gebrauch unsittlicher Mittel zu diesem Zweck.”

Aber gerade die unsittlichen Methoden sind heute die gängigsten. War vor acht Jahren die natürliche Enthaltsamkeit begünstigt, so bekannte sich die Regierung nach und nach zur komplizierteren Zeitwahl, um schließlich das Heil in empfängnisverhütenden Mitteln und neuerdings gar in Sterilisierung zu suchen. Man läßt Katholiken, die nicht mittun, oder Schwestern, Hebammen und Aerzte bei Gewissenskonflikten unbehelligt, aber die ständige Beeinflussung der öffentlichen Meinung und die praktische wirtschaftliche Schlechterstellung kinderreicher Familien im Verhältnis zu den Planfamilien sind eine harte Prüfung.

Die wiederholten heftigen Proteste des Episkopats und der Laienorganisationen vereinigen sich mit einer nichtverstummenden Opposition andersgläubiger Inder, die zum Teil die gleichen Forderungen des natürlichen Sittengestzes wie die Kirche geltend machen. Dazu hat man seine Erfahrungen: „Von den sozialen Uebeln aus zu urteilen, die aus dem Gebrauch von Verhütungsmitteln im Westen entstanden sind, scheint es mir der sicherste Weg zum Untergang der indischen Kultur zu sein”, erklärte Dr. B. V. Mulary auf dem allindischen Aerztekongreß 1953.

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