Vergewaltigung als Instrument politischer Macht

Werbung
Werbung
Werbung

Zu Tode geprügelt, vergewaltigt, unterdrückt. Was sind die Gründe für die massive Gewalt gegen Frauen in Indien? Eine der profundesten Indien-Expertinnen Österreichs gibt Antwort.

Die Vergewaltigung einer 23-jährigen Medizinstudentin in einem Bus in Neu-Delhi hat Indien aufgerüttelt. Bei dieser Vergewaltigung durch mehrere Männer am 16. Dezember 2012 erlitt die junge Frau schwerste innere Verletzungen, denen sie 13 Tage später erlag. Es war einer der grausamsten Fälle von Gewalt gegen Frauen in der jüngsten Zeit. In den erregten Debatten im Fernsehen und unter den Demonstranten auf der Straße wurden härteste Strafen für Sexualverbrecher - von der chemischen Kastration bis zur Todesstrafe - gefordert. Viele Menschen verlangten Sondergerichte, an denen Prozesse in Vergewaltigungsfällen zügig verhandelt werden sollten.

Doch in das Entsetzen mischten sich sofort auch Stimmen, die zeigten, wie tief verwurzelt die Frauenfeindlichkeit in Indien ist. Mehrere Politiker fragten in aller Öffentlichkeit, was Frauen zu später Stunde auf der Straße verloren hätten, oder deuteten an, dass Frauen, denen Gewalt widerfahre, selbst Fehler begangen haben müssten. Ein Politiker nannte als einzig mögliche Erklärung für die Gewalt gegen Frauen die ungünstige Sternenkonstellation. Mohan Bhagwat, der Leiter der einflussreichen Hindu-fundamentalistischen Organisation RSS, erklärte, Vergewaltigungen gäbe es nur in den Städten, in denen sich die Verwestlichung der Gesellschaft negativ auswirke. Die traditionelle Hindu-Gesellschaft bringe den Frauen Achtung entgegen. Frauen gehörten allerdings an den Herd, erläuterte Mohan Bhagwat seine Vorstellung des "gesellschaftlichen Vertrags“.

Widerstand der Inderinnen

Kommentare dieser Art machten deutlich, auf welche Widerstände die Inderinnen im Kampf um ihre Rechte stoßen. Die demokratische Verfassung, die sich Indien nach der Unabhängigkeit im Jahre 1947 gab, sieht einen modernen säkularen Staat vor, in dem alle Menschen - Männer und Frauen - gleiche Rechte haben. Tatsächlich hat sich in den vergangenen sechseinhalb Jahrzehnten viel verändert. Einstmals rechtlose und marginalisierte Gruppen kämpfen - teils durchaus mit Erfolg - um sozialen Aufstieg. Frauen, aber auch niedrige Kasten und ethnische Minderheiten engagieren sich für die Durchsetzung ihrer in der Verfassung festgeschriebenen Rechte. Alte feudale, patriarchale und religiös sanktionierte Strukturen der Diskriminierung werden auf allen Ebenen infrage gestellt.

Gegen die Errichtung eines modernen demokratischen Systems regten sich aber von Anfang an harte Widerstände, betont Indu Agnihotri, Leiterin des Centre for Women’s Development Studies in Neu-Delhi. "Als Reaktion auf die emanzipatorischen Bewegungen rücken viele Gruppen und Subkasten enger zusammen, um ihre Macht und ihren Besitzstand zu verteidigen. Seit den 1980er-Jahren sind religiöse fundamentalistische Strömungen sowohl bei den Hindus als auch bei den Muslimen erstarkt. Überall können wir diesen Widerstand gegen den gesellschaftlichen Wandel beobachten.“

Viele Politiker, Beamte sowie Angehörige von Polizei und Justiz sind Teil des tief verwurzelten Patriarchats, betont Radhika Chopra, Professorin für Soziologie an der Delhi-Universität. Wie sonst könnten viele in Reaktion auf die jüngsten Gewaltfälle erneut den Frauen die Schuld geben und eine stärkere Kontrolle der Frauen durch ihre Familien fordern? "Es ist natürlich ein Mythos, dass diese Kontrolle der Sicherheit der Frau dient“, sagt Radhika Chopra. Denn die meisten Verbrechen gegen Frauen werden im Familien- und Bekanntenkreis verübt. Die Gewalt gegen Frauen beginnt in Indien schon vor der Geburt, wenn weibliche Föten abgetrieben werden, weil die Eltern Söhne bevorzugen. Denn Söhne führen wichtige religiöse Rituale durch. Sie sind die Stammhalter, während Töchter in andere Familien einheiraten und eine große Mitgift benötigen. Von Vergewaltigung durch Verwandte, Nachbarn oder Familienfreunde sind dann nicht nur Mädchen und unverheiratete Frauen bedroht. Zu Vergewaltigungen kommt es auch in der Ehe. Viele verheiratete Frauen werden zudem Opfer von Mitgiftmorden, an denen allerdings immer wieder auch Schwiegermütter beteiligt sind. "Sobald Vergewaltigungsfälle publik werden, kommt dennoch oft diese patriarchale Reaktion: Man müsse die Frauen unter strikte Aufsicht stellen“, sagt Radhika Chopra. Sie sieht das als Teil des neuen Konservatismus in Politik, Religion und Familie. "Der wachsende Konservatismus ist eine Reaktion auf tief greifende Veränderungen.“

Das patriarchale Wirtschaftssystem

Das neoliberale Wirtschaftssystem, dem sich Indien Anfang der 1990er-Jahre verschrieben hat, verstärkt nach der Überzeugung indischer Feministinnen alte patriarchale Strukturen. Der Neoliberalismus vergrößert die Ungleichheit, damit steigt die Zahl der gewalttätigen Konflikte insgesamt. "Je größer die Konflikte werden, umso gefährdeter sind die Frauen. Das Patriarchat wird weiter gestärkt, die Demokratie geschwächt“, resümiert Indu Agnihotri. "Die Frauen und die Frauenbewegung benötigen aber eine Ausweitung der Demokratie.“

Die Soziologin Pratiksha Baxi von der Jawaharlal Nehru Universität in Neu-Delhi definiert Vergewaltigung als politisches Instrument, als Instrument der Macht. Immer wieder werde dieses Instrument im Zuge von Kastenkonflikten von Angehörigen höherer Kasten gegen Frauen aus niedrigeren Kasten oder ethnischen Minderheiten eingesetzt. Vergewaltigt werden Frauen häufig auch in Polizeigewahrsam und Haftanstalten. "Natürlich gibt es auch fortschrittliche Richter und Urteile“, betont Pratiksha Baxi. "Doch insgesamt haben Polizei, Gerichte und Politik eine Kultur gestützt, in der Vergewaltigung nicht ernst genommen wird. Und die Frauen stehen unter enormem Druck.“

Dieser Druck wird gerade auch von der Familie ausgeübt, die eine Vergewaltigung häufig als Verletzung der Familienehre ansieht. Dieser Ehrbegriff führt zu einer Kultur des Schweigens. In Fernsehdebatten nach dem Vergewaltigungsfall an der 23-jährigen Studentin in Neu-Delhi haben einige Frauen ihr Schweigen gebrochen und in aller Öffentlichkeit davon erzählt, wie sie selbst vergewaltigt wurden und auf Druck der Familie niemanden davon erzählen und schon gar keine Anzeige erstatten durften.

Inwieweit werden das Verbrechen an der 23-Jährigen und die Proteste die indische Gesellschaft nun verändern? Die Medien richten derzeit ihren Fokus eindeutig auf das Thema Vergewaltigung. Doch damit sich Inderinnen in ihrem eigenen Land sicher fühlen können, ist ein grundlegender Wandel in der Gesellschaft nötig, sind sich Feministinnen einig. Frauen und ihre Menschenrechte müssen geachtet werden. Doch bis dahin ist es ein langer Weg.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung