Hinter den Gittern der Burka-Gesellschaft

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Frauenrechts-Aktivistinnen in Afghanistan berichten von einer breiten Verrohung des Klimas in der Gesellschaft. Die Not der Frauen nimmt dramatische Ausmaße an. Ein Report.

Im Norden Afghanistans lauern am 26. November 2012 zwei Mörder einem 14-jährigen Mädchen auf, als es Wasser aus dem Dorfbrunnen holt. Das Opfer wird unweit vom Elternhaus enthauptet. Einer der mit ihr verwandten Mörder hielt zuvor um ihre Hand an. Unterstützt von ihren Eltern lehnte sie ihn jedoch ab. Ganz anders ein Mord im Oktober, dessen Opfer völlig auf sich gestellt ist: In der westlichen Provinz Herat wird eine 20-jährige Frau im Auftrag ihres Mannes und der Schwiegerfamilie enthauptet. Das Tatmotiv: Sie gehorchte ihrer Schwiegermutter nicht, die sie zur Prostitution zwingen wollte.

Derartige Verbrechen sind mit dem afghanischen Strafgesetzbuch unvereinbar. Gleichwohl ist Misshandlung von Frauen durchaus gesellschaftsfähig und wird vom Staat und dessen Dienern zumindest geduldet. Laut geltender kultureller Kodizes sind Frauen, die allein unterwegs sind, Freiwild ihrer männlichen Landsleute.

Das ungeschriebene Mandat, Einzelgängerinnen aufzugreifen, übernimmt auch die Polizei. Nur wenigen Opfern bleibt die Vergewaltigung im Polizeigewahrsam erspart. Ihre Entrechtung ist auf jeden Fall schon lange davor besiegelt gewesen: Weil eine Frau allein unterwegs ist, wird sie verdächtigt "zina“, jenes bemerkenswerte "Sittenverbrechen“ außerehelichen Geschlechtsverkehrs begehen zu wollen.

Allein der Verdacht rechtfertigt schon Untersuchsungshaft und Freiheitsstrafe. Selbst wenn der Festnahme keine "rechtskräftige“ Verurteilung durch ein Gericht folgt, kann der Freiheitsentzug über Jahre dauern. Über 50 Prozent der volljährigen weiblichen Inhaftierten und 100 Prozent der minderjährigen Häftlinge, sitzen wegen des "Davonlaufens“ hinter Schloss und Riegel — in Hafteinrichtungen, deren Bau und Erhaltung aus ausländischen Steuermitteln zur Verbesserung der afghanischen Infrastruktur bezahlt wurde.

Institutionalisierte Frauenverfolgung

Zwar ist im afghanischen Strafrecht "Davonlaufen“ kein Tatbestand und es ist unter islamischen Rechtsexperten sogar umstritten, inwieweit er in der Scharia gilt. Jedoch hält ein Erlass des Obersten Gerichtshofes von 2010 fest: Eine Davongelaufene sei zu bestrafen, wenn sie, und sei es, um Misshandlungen zu entkommen, zu einem Fremden (Nichtverwandten) flieht. Dadurch setze sie sich Verbrechen wie "Ehebruch und anderen artverwandten Vergehen“ aus. Ganz in diesem Geist gab das Oberste Gericht 2011 bekannt, dass “Gleichheit und Nichtdiskriminierung der Geschlechter nicht absolut” seien, um auf die Verfassung mit ihrer Festlegung auf die Scharia als Grundlage afghanischer Gesetzgebung zu verweisen.

Das ernüchternde Fazit nach mehr als zehn Jahren Demokratisierung in Afghanistan: Frauen werden als Handelsware und nicht als Mitglied der menschlichen Gattung behandelt. Für Mädchen und Frauen bleiben Grundrechte und fundamentale Menschenrechte wie in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung garantiert, eine Utopie. Sie genießen weder das Recht auf persönliche Freiheit noch auf Selbstbestimmung, auf Schutz des Kindeswohls, auf freie Partnerwahl und Familie, noch auf Bildung, auf gesundheitliche Versorgung.

Gegen jede Vernunft

Das in der Verfassung verbriefte Verbot der Diskriminierung von Frauen ist toter Buchstabe. Alltag ist Verfolgung. Sie ist kulturell akzeptiert, gesellschaftlich institutionalisiert und unverwüstlichen religiösen oder pseudoreligösen Denkmustern geschuldet.

Der Zusammenhang von gesellschaftlicher und politischer Partizipation von Frauen und wirtschaftlicher Entwicklung, Gesundheit und Bildung ist längst bekannt. Ebenso, dass für Konfliktverhütung und erfolgversprechendes Postkrisenmanagement gleichberechtigte und uneigeschränkte Partizipation von Frauen unverzichtbar ist.

Die Kehrseite dieser Medaille dürfte in Afghanistan evident sein: Nämlich, dass die Verfolgung von Frauen auf breiter Ebene zur Verrohung des gesellschaftlichen Klimas und zur desolaten gesamtwirtschaftlichen Lage dieses Landes beiträgt, das zu den ärmsten der Welt zählt.

Die Angst vor dem Rückzug

Angesichts des bevorstehenden Rückzugs der internationalen Gemeinschaft nehmen Szenarien bürgerkriegsähnlicher Zustände mehr und mehr Gestalt an. Das könnte die Lage der Frauen Afghanistans weiter verschlechtern. Immer eindringlicher warnen Frauen und MenschenrechtlerInnen vor dem Rückzug der internationalen Truppen der von der NATO geführten Koalition.

Indessen verweisen afghanische Politiker auf gestiegene Schülerinnenzahlen. Dazu bemühen sie allerdings lückenhaften Statistiken, die beispielsweise über die Dauer des Schulbesuchs nichts aussagen. Auf diese Weise summiert sich die Zahl auf 2,5 Millionen Mädchen, von denen tatsächlich nur ein Bruchteil in den Schulen sitzt. Damit bleiben Selbstgratulationen mit solchen Erfolgsparametern politische VogelStrauß-Politik.

So klammern sich die letzten Hoffnungen der afghanischen NGOs an ein Gesetz, welches die Gewalt gegen Frauen verbietet. Schon allein seine Entstehungsgeschichte lässt Zweifel aufkommen. Die Staatengemeinschaft hatte das Gesetz eingefordert, aber das afghanische Parlament hatte es nie beschlossen. 2009 wurde es per Präsidentenerlass in Kraft gesetzt. Mit deutlichen Schwächen allerdings: Die Definition des Vergewaltigungstatbestands fehlt vollständig. Was ist aber ein Strafgesetz ohne ein Delikt? Darauf gibt es derzeit keine Antwort in Afghanistan.

Der Autor war bis Februar 2012 als Rechtsexperte bei der EU-Polizeimission in Afghanistan tätig.

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