Nicaragua: Land der starken Frauen?

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Bei der Gleichberechtigung ist Nicaragua Weltklasse. Nirgendwo gehören prozentual mehr Ministerinnen der Regierung an. In dem mittelamerikanischen Land sind aber häusliche Gewalt und sexueller Missbrauch noch immer weit verbreitet.

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Bei der Gleichberechtigung ist Nicaragua Weltklasse. Nirgendwo gehören prozentual mehr Ministerinnen der Regierung an. In dem mittelamerikanischen Land sind aber häusliche Gewalt und sexueller Missbrauch noch immer weit verbreitet.

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Das Weltwirtschaftsforum in Davos hat 2013 Nicaragua unter die weltweit zehn Länder gereiht, in denen die Gleichstellung der Frau am meisten verwirklicht sei. In Lateinamerika liegt das Land sogar an der Spitze. Tatsächlich schreibt ein neues Gesetz für das Parlament und die Gemeindevertretungen vor, dass die Frauen auf allen Parteilisten 50:50 berücksichtigt sein müssen. Auch im Kabinett stellen die Frauen die Hälfte. Bei der Polizei sind Frauen mit einem Anteil von 33 Prozent besser vertreten als irgendwo sonst in Zentralamerika.

Nicaragua, ein Paradies für Frauen?

Mitnichten, meint die Journalistin Sofía Montenegro. Diese formale Gleichstellung bedeute gar nichts. Das Ranking sei durch das Abhaken einer Checkliste zustande gekommen: "Mit der Wirklichkeit hat das nichts zu tun". Die Lebenswirklichkeit der Frauen Nicaraguas sieht anders aus. Sie zeigt sich beim MIRIAM-Bildungsprojekt zur Frauenförderung. Im Städtchen Somotillo, rund 200 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt Managua, hat es ein Büro, wo Rechtsberatung aber auch psychosoziale Betreuung für Frauen angeboten wird. Junge Frauen, die dank eines Stipendiums studieren konnten, werden ausgebildet, dass sie in ihren Dörfern oder Stadtbezirken die häusliche Gewalt bekämpfen können. Elba Moncada ist 54 Jahre alt, seit 31 Jahren verheiratet und hat fünf Kinder. Auch sie holte sich im Büro Hilfe. Ihr Leben ist von Prügel und sexueller Gewalt geprägt.

"Was hab ich nicht alles aushalten müssen", sagt sie und erzählt von Vergewaltigungen und Missbrauch durch ihren Ehemann. Sechs Monate sei er bereits wegen Gewalt gegen seine Frau im Gefängnis gesessen. Dann hätte sie ihre Tochter bekniet, den Papa wieder rauszuholen. Sie ließ sich überreden, hoffte auf Besserung. Aber bald fing alles wieder von vorne an. Als er wieder zu trinken und prügeln begann, rief Elba die Polizei. Der Richter verhängte 13 Jahre Haft. Moncada stützt sich auf ein vor bald zwei Jahren verabschiedetes Gesetz, bekannt als Gesetz 779, das es Menschen ermöglicht, ihren gewalttätigen Partner anzuzeigen und bis zur Verhandlung wegsperren zu lassen. Ana Maria Pizarro ist Ärztin und Direktorin des Frauenzentrums SiMujer. Sie ist mit der frauenfreundlichen Gesetzgebung grundsätzlich zufrieden. Aber lange konnten sich Nicaraguas Frauen nicht darüber freuen, da durch eine großangelegte Kampagne von Kirche und Politik eine Gesetzesänderung im Parlament durchgepeitscht wurde, die eine Mediation zwischen Aggressor und Opfer verpflichtend vorsieht. Pizarro findet das unverantwortlich, denn "eigentlich wurde die Mediation abgeschafft, da sie vielen Frauenmorden vorausgegangen war." Die Gewalterfahrungen beginnen bereits in der Kindheit.

Der Staat hilft den Frauen nicht

"Es ist keine Seltenheit, dass Mädchen die ersten sexuellen Erfahrungen mit dem Bruder, dem Vater oder Onkel machen", sagt Zoraida Soza, die Direktorin der Organisation Aguas Bravas, die sich um Opfer sexueller Gewalt kümmert und von der Katholischen Frauenbewegung in Österreich gefördert wird. Von staatlicher Seite gibt es keine vergleichbare Einrichtung. Und obwohl viele der Opfer ihr Leben lang traumatisiert bleiben, wird die sexuelle Gewalt nicht als gesellschaftliches Problem wahrgenommen. Wenn ein Mädchen etwa in der Provinz vergewaltigt wird, und der Täter sich dann seines Opfers annimmt, dann ist das kein Verbrechen. "Auch wenn er 40 Jahre alt ist und sie 15", sagt Pizarro. Als sexueller Missbrauch zähle das nämlich nicht. Dieses Denken wird von allerhöchster Stelle gepflegt und gefördert.

Rosario Murillo, Ehefrau von Präsident Daniel Ortega und als Sekretärin für Kommunikation eine Art Propagandaministerin, hat ein Kind, das als Frucht einer inzestuösen Vergewaltigung entstand, als "Geschenk Gottes" gefeiert. Sie selbst veranlasste, dass eine zwölfjährige werdende Mutter bis zur Niederkunft bewacht wurde. Murillo ist eine der vehementesten Anti-Abtreibungsaktivistinnen. 2006, wenige Tage bevor die Präsidentschaftswahlen den ehemaligen Revolutionskommandanten Ortega neuerlich an die Macht brachten, hatte das Parlament eines der strengsten Abtreibungsverbote der Welt beschlossen. Auf Betreiben der sandinistischen Mehrheitsfraktion wurde die mehr als 100 Jahre alte liberale Gesetzgebung, die Schwangerschaftsunterbrechung straffrei stellte, ausgehebelt. Seither ist das medizinische Personal verpflichtet, eine Frau, die mit Unterleibsblutungen eingeliefert wird, anzuzeigen.

35 Jahre ist es her, dass ein Volksaufstand, angeführt von der Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) die korrupte Somoza-Dynastie hinwegfegte. Frauen waren daran führend beteiligt. Aber was ist von zehn Jahren Revolution, die 1990 an den Urnen endete, geblieben? Nach der Revolution sei dasselbe passiert, wie in Europa nach dem Krieg: "Die Männer kamen von der Front zurück und wollten ihre alten Machtpositionen wieder einnehmen", sagt Feministin Montenegro. Allerdings ließe sich das Rad der Geschichte nicht ganz zurückdrehen: Frauen stellen noch immer die Mehrheit derjenigen, die ein Universitätsstudium abschließen.

Hohe Akademikerquote bei Frauen

Aber in den Köpfen habe sich nicht viel verändert, sagt die Ärztin Pizarro: "Während der Revolution haben wir das Ausmaß der Gewalt gegen Frauen nicht bemerkt." Das alles sei nicht so aufgefallen, weil die Verteidigung der Souveränität im Vordergrund gestanden sei.

Erst später kam das Bewusstsein, dass in diesen zehn Jahren die Gewalt nicht ernsthaft kritisiert wurde. Die wenigen Feministinnen, die während der Revolution ihre Stimmen erhoben, wurden aus der Partei ausgeschlossen oder, wenn sie keine Mitglieder waren, standen sie unter Beobachtung. Die Frauen Nicaraguas sind selbstbewusst geworden, auch auf dem Gebiet der Gesetzgebung sind die Fortschritte unübersehbar. Aber die Praxis hinkt hinterher. Und von der gesellschaftlichen Wertschätzung, die sie verdienen und dem Respekt vor ihrer körperlichen und psychischen Integrität sind Nicaraguas Frauen auch 35 Jahre nach den revolutionären Umbrüchen noch weit entfernt.

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