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Die Unschuld verloren...

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„Die Sandinisten haben ihren Kampf auf eine ganz hervorragende Weise begonnen. Ich habe jetzt die Befürchtung, daß sie in den Totalitarismus fallen. Das Leiden unseres geliebten Nikaragua ist noch nicht beendet.“ Diese nahezu prophetische Feststellung soll der brasilianische Bischof Dom Helder Camara schon ein Jahr nach dem Sieg der sandini-stischen Revolution über die grausame Diktatur Anastasio So-mozas getroffen haben.

Mehr als sieben Jahre sind inzwischen seit jenem 19. Juli 1979 vergangen, an dem die bewaffneten Sandinisten unter dem Jubel der Bevölkerung von der Hauptstadt Managua Besitz ergriffen haben, um eine neue Gesellschaft mit neuen Menschen in einen neuen Staat zu führen.

Politischer Pluralismus, gemischte Wirtschaft und Blockfreiheit wurden als unabänderliche Staatsziele proklamiert. Alphabetisierungskampagne, Landreform, der Kampf gegen Kindersterblichkeit und Malaria, der Aufbau eines modernen Schulwesens sollten absolute Priorität haben.

Im September 1986 tritt das san-dinistische Nikaragua in vielen dieser Bereiche auf der Stelle, in anderen Bereichen — vor allem was die wirtschaftliche Lage anlangt — fallen die bisherigen Errungenschaften der Revolution sogar hinter den Standard vor 1979 zurück.

Seit März 1982 herrscht im Land der Ausnahmezustand, der im Oktober 1985 noch weiter verschärft wurde. Die Staatsgefängnisse sind überbelegt, Berichte über Mißhandlungen, gar Folterungen gehen um die Welt. Spitzelwesen, Zensur und Landesverweise runden das Bild eines (totalitären) Systems ab.

Die sandinistische Revolution — so meinen die demokratischen Regierungen der westlichen Hemisphäre heute — hat endgültig ihre Unschuld verloren.

Die Junta in Managua weiß sich auf dem ganzen amerikanischen Kontinent isoliert. Als Reaktion darauf sucht sie ihr Heil in einer stärkeren Anlehnung an die Länder des kommunistischen Ostblocks. In der Organisation der blockfreien Länder wird Nikaragua nicht für vertrauenswürdig genug gehalten, um ihren Vorsitz zu übernehmen.

Der tristen wirtschaftlichen Lage - 200 Prozent Inflation, sinkende Produktion, Kapitalflucht, dramatischer Rückgang der Exporterlöse — soll mit dem Konzept einer „Uberlebenswirtschaft“ begegnet werden. Das Wirtschaftsembargo der Vereinigten Staaten zwingt zur Improvisation bei der Ersatzteilbeschaffung. Beim Sozialprogramm, beim Bau von Schulen muß rigoros eingespart werden. Sogar Klopapier ist Mangelware. Strom und Wasser werden zeitweise abgedreht.

Ein unabhängiger Gewerkschaftsfunktionär bringt die Stimmungslage im Land auf einen Nenner: „Man spürt das Präludium für eine große Volkserhebung — in erster Linie wegen der Mangelsituation.“

Und über allem schwebt die militärische Präsenz der Konterrevolutionäre, der „Contras“, die vom nördlichen Nachbarstaat Honduras aus immer wieder einfallen, Straßen verminen, landwirtschaftliche Kooperativen in Brand stecken, selbst vor Angriffen auf Zivilisten und europäische Entwicklungshelfer nicht zurückschrecken.

Laut offizieller Sprachregelung kämpft die sandinistische Armee seit 1982 gar nicht gegen ehemalige sandinistische Mitkämpfer, die sich vor lauter Enttäuschung über die Entwicklung des „revolutionären Prozesses“ zum bewaffneten Widerstand gegen die neun „Comandantes“ in Managua entschlossen haben. Es wären auch nicht die Reste der ehemaligen „Guardia Nacional“ (Nationalgarde) der Somoza-Diktatur, gegen die gekämpft werde. Es sei die „Aggression der Nordamerikaner“, die es abzuwehren gelte.

Mitunter wird man den Eindruck nicht los, daß die Nikaragua-Politik Ronald Reagans für viele Fehler, die im Land selbst gemacht werden, als Sündenbock herhalten muß. So lieferte die 110-Millionen-Dollar-„Spende“ der USA an die „Contras“ auch den Vorwand für die weitgehende Abschaffung der Pressefreiheit.

Und dennoch: während sich die Sandinisten-Junta auf eine großangelegte Offensive der „Contras“ im Herbst vorbereitet, begannen am 16. September in der „Asamblea Nacional“ (Nationalversammlung) die Schlußberatungen über die Verfassung.

Die seit den Wahlen von 1984 mit Zwei-Drittel-Mehrheit regierende und sich als Einheits- und Staatspartei gerierende „Frente Sandinista de Liberacion Nacional“ (FSLN) ist — wenn es nach dem Präsidenten der verfassungsgebenden Versammlung, Comandante Carlos Nunez, geht-zu Zugeständnissen gegenüber den Oppositionsparteien bereit.

Genauso soll auch der Dialog mit der Hierarchie der katholischen Kirche in diesen Tagen wieder aufgenommen werden.

Was jetzt Nikaragua dringend braucht, das ist die kritische Beobachtung und Begleitung aller westeuropäischen Staaten beim vielleicht letzten Versuch, den „Dritten Weg“ zwischen Kommunismus und Kapitalismus in Zentralamerika doch noch zu finden.

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