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Olympisches Nebengeräusch

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Die Universitätsstadt in Mexico 1 City, heuer Olympiastadt, die auf 1 einem riesigen Lavafeld unter Teil- | nähme der ganzen Nation errichtet 1 wurde, ist wohl die schönste in ganz ] Lateinamerika. (Architekten, Maler und Ingenieure haben ohne Honorar gearbeitet.) Als ich einen Funktio- när, der seit sieben Jahren an der £ Universität tätig ist, nach den Be- Ziehungen zwischen ihr und dem r Staate fragte, antwortete er: „Die r Studenten haben keinen Grund, sich ] über die Regierung zu beklagen. Wir ( identifizieren uns mit dem Staat." j Eine halbe Stunde später sagte mir freilich ein Student etwas ganz anderes: „Wir sind unterjocht, müs- , sen schweigen oder riskieren, daß : wir von der Universität verjagt und i ins Gefängnis gebracht werden, wie es der Fall war, als wir kürzlich Lastwagen für uns eroberten …“

Das „Gewissen der Nation“

In ganz Lateinamerika besteht ein chronischer Gegensatz zwischen den Staatsuniversitäten und den Regierungen, weil die Hochschulen sich als „das Gewissen der Nation“ betrachten und die Protektionswirtschaft, in deren Rahmen sich die normale Innenpolitik entwickelt, mißbilligen. Während die sogenannte Oligarchie, das heißt die Oberschicht, die in den meisten Ländern die Regie auf der demokratischen Bühne führt, den „Status quo“ verteidigt, verlangen die Universitätskreise nicht nur die Modernisierung des Lehrbetriebes, sondern auch die der Strukturen. Dadurch, daß Lehr- wesen und Forschung in den Vereinigten Staaten mit unverhältnismäßig größeren Mitteln betrieben werden können, hat sich gerade unter den Intellektuellen ein ausgeprägter Minderwertigkeitskomplex entwickelt, der zu einer tiefverwurzelten Feindschaft gegen die USA geführt, so daß die Staatsuniversitäten in vielen Ländern Hochburgen des Castroismus geworden sind. »w.v.y

Die Situation in Mexiko ist verschieden,’ freilich nicht in der Haltung gegenüber den USA; denn die Masse auch der Intellektuellen ist äußerst empfindlich gegenüber dem mächtigen Nachbarn im Norden und hat nicht vergessen, daß er die Hälfte des Gebietes von Mexiko annektiert hat.

Erbitterte „Antiyankees“

Nun hat sich in den letzten Jahrzehnten das Bild völlig gewandelt. Die nordamerikanischen Touristen, die früher nach Kuba fuhren, besuchen jetzt Mexiko und bringen jährlich mehr als 50 Millionen Dollar ins Land. Auslandskapital, vor allem aus den USA, fließt in der Höhe von etwa 200 Millionen Dollar jährlich nach Mexiko. Die Beziehungen zwischen dem Präsidenten Diaz Ordaz und Johnson sind sehr freundschaftlich. Aber darin ähnelt die Situation der in den anderen Ländern, daß die Studenten erbitterte Antiyankees geblieben sind, auch wenn die Regierungen längst das Steuer herumgeworfen haben.

Der große Unterschied zwischen Mexiko und den anderen lateinamerikanischen Staaten ist, daß von 1910 bis 1920 dort eine klassenkämpferische Revolution stattgefunden hat (die zweite: Bolivien 1953). Das ‘Ergebnis dieser Revolution war die Bildung einer Einheitspartei. Sie hat wiederholt ihren Namen gewechselt und heißt jetzt „P. R. I.“ („Partido Revolucionario Institucional“), was etwa mit „Partei, die die Errungenschaften der Revolution in verfassungsmäßigem Rahmen verewigen will“, übersetzt werden kann. Von 40 Millionen Mexikanern gehören sieben Millionen dieser Partei an. Um das demokratische Gesicht zu wahren, wurde auch eine „Opposition“ herbeigezaubert, vor allem die der „Partido de Acciön Nacional“. Vorläufig scheint sich keine ernste Opposition in dem „Frente Nacional Revolucionario“ abzuzeichnen, dessen Bildung der vor zwei Jahren ausgeschiedene Präsident der „P. R. I.“, Carlos A. Madrazo, angekündigt hat.

Die Regierungspartei beherrscht in Wirklichkeit völlig das Land. Um einen Posten zu bekommen, muß man ihr Mitglied sein. Sie verfügt über die Zweidrittelmehrheit im Parlament und hat sich nicht nach Fraktionen, sondern nach Berufsgruppen organisiert. Es gibt fünf Unterteilungen: Arbeiter-, Agrar-, Mittelstands-, Frauen- und Jugendsektor. Nach diesem Prinzip kommt auch bei den Universitätswahlen nicht der Repräsentant einer Partei, sondern der einer Fachgruppe zum Zug. Diese seit 40 Jahren bestehende Einheitspartei hat nicht nur die Bürokratie und die Korruption begünstigt, sondern zu einer weitgehenden Erstarrung der politischen Strukturen geführt. Aus den Revolutionären sind längst Bür-ger geworden. Obwohl nur etwa zehn Prozent der Studenten kommunistisch sein sollen, gilt der Kampf der gesamten Studentenschaft diesem „Establishment“.

Professoren und Studenten

Dabei ist das Verhältnis zwischen Professoren und Studenten verschieden.

Als die Studenten 1965 die Universität besetzten und schwerste Kämpfe mit Polizei und Truppen stattfanden, war der damalige Rektor der Universität, der sehr linksgerichtete berühmteste lateinameri- kanische Herzspezialist Prof. Ignacio Chdvez das Hauptziel der Angriffe. Die Studenten verlangten, daß die in der Juristischen Fakultät Durchgefallenen ein schnelles Nachexamen ablegen könnten. Sie verhafteten damals praktisch den Rektor und den ganzen Universitätsrat.

Jetzt hingegen hat der Rektor der Universität Javier Barros Sierra an den Protestdemonstrationen teilge- nomimen, freilich nicht von Anfang an. Die ersten Unruhen ergaben sich bei prokubanischen und antinordamerikanischen Kundgebungen. Dadurch, daß die Polizei und das Heer sehr scharf eingriffen und man sogar Mörser einsetzte, wurden auch nichtradikale Studenten zu Bundesgenossen der Fanatiker. Diese Einheitsfront verdichtete sich, als das Heer die Universitätsstadt besetzte.

Die Studentenunruhen in Mexiko und Uruguay haben ein so starkes internationales Echo gefunden, daß die älteste Universität des Kontinents, die San-Marcos-Universität in Lima, eine Konferenz über sie einberufen hat, die in Lima oder Caracas stattfinden soll.

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