Wunden an Körper und Seele

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Wenn ein junger Mann den Brautpreis nicht aufbringen kann oder kein Geld für die aufwendigen Hochzeitszeremonien hat, raubt er sich ein Mädchen und vergewaltigt es. Telafa heißt dieser Brauch - Eheschließung durch Kidnapping. Dem Mädchen bleibt kaum eine Wahl als den Burschen zu heiraten oder aus dem Dorf fortzulaufen. Viele landen in den Städten als Straßenkinder oder Prostituierte. Wieviele Fälle es gebe, könne sie nicht sagen, meint Abebech Alemneh vom nationalen Komitee für schädliche Praktiken. Denn obwohl Vergewaltigung und Entführung nach äthiopischem Recht strafbare Verbrechen sind, kommen die wenigsten Fälle zur Polizei oder gar vor Gericht.

Ähnliches gilt für die Kindesehe, die vor allem im Norden weit verbreitet ist. Nach dem neuen äthiopischen Familiengesetz gilt für Buben und Mädchen ein gesetzliches Heiratsalter von 18 Jahren, die Realität sieht jedoch anders aus. Wenn eine Familie die Tochter nicht ernähren kann, verheiratet sie sie in eine andere Familie. Manchmal wird die Ehe schon vor der Geburt des Mädchens arrangiert, im Alter zwischen 10 und 14 dann vollzogen. Was das für Psyche und Gesundheit der Mädchen bedeutet, liegt auf der Hand. Sie werden nicht nur von Bildung ausgeschlossen und der Möglichkeit, wirtschaftliche Selbstständigkeit zu erlangen. "Ein Mädchen in diesem Alter ist viel zu jung, um Geschlechtsverkehr zu haben, um Verantwortung zu übernehmen, oder selbst Kinder zu haben. Außerdem trifft dieser Brauch die gesamte Gesellschaft, weil er die Geburtenziffer in die Höhe treibt" sagt Abebech Alemneh.

Eine besonders grausame Praktik ist die weibliche Genitalbeschneidung, für deren Abschaffung sich Alemneh und ihre Mitarbeiterinnen besonders einsetzen.

Ein schwerer Kampf, wie die Gespräche mit den Menschen in den Dörfern zeigen. Wie zum Beispiel in der Somali Region im äußersten Süden Äthiopiens. Eine überaus karge Gegend, in der es keine Straßen gibt, kaum Schulen, keinen elektrischen Strom, in der nur ein Bruchteil der Bevölkerung Zugang zu Gesundheitseinrichtungen, zu sauberem Wasser hat.

Der Kampf ums tägliche Überleben obliegt vor allem den Frauen. Sana, meine somalische Begleiterin, versteht es, mit ihnen zu reden. Zu ihr haben sie Vertrauen, auch wenn sie mit ihr alleine ungezwungener redeten. Als Community Participation Officer ist Sana oft in den Dörfern unterwegs. Ihre Aufgabe ist es, alle wichtigen Informationen aus der Gemeinde hinauszutragen in die Dörfer. Mit ihrer Hilfe gelingt es, auch über die Genitalbeschneidung zu sprechen. 90 Prozent der Mädchen Äthiopiens werden entweder unmittelbar nach der Geburt oder im Alter von etwa acht Jahren beschnitten.

Hier, in der Somali-Region, wird meist die Infibulation durchgeführt - nach der Beschneidung wird der Genitalbereich des Mädchens zugenäht. "Die Beschneiderinnen sind meist die alten Frauen, die in einer Gemeinde leben und von dieser respektiert werden. Sie verwenden keine Anästhesie und arbeiten meist mit rostigen Instrumenten. Tetanus, schwere Blutungen und Infektionen sowie HIV sind die Folge, ganz zu schweigen von den psychischen Problemen der Mädchen", erklärt Abebech Alemneh.

Schande für das Dorf

Auch hier werden die Mädchen beschnitten, bestätigen die Frauen im Dorf Dorale. Obwohl man die gesundheitlichen Probleme kenne und alles daransetze, diesen Brauch zu stoppen. Aber die Beschneidung sei eine langjährige Tradition, die nicht so einfach aufgegeben werden könne!

Was würde passieren, wenn sie ihre Tochter nicht beschneiden ließe, frage ich eine junge Frau, die zuvor davon gesprochen hat, dass die Beschneiderin bald auch zu ihrer Tochter kommen wird. Die Frauen brechen in erstauntes Lachen aus. "Wenn meine Tochter nicht beschnitten wird, findet sie doch keinen Mann, der sie heiraten will!" sagt eine von ihnen. "Das wäre eine Schande für die ganze Gemeinde. Das Mädchen geriete außer Kontrolle, würde sich den erstbesten jungen Kerl schnappen und mit ihm wegrennen!"

Wenn Sana in den Dörfern unterwegs ist und über die Folgen der Beschneidung aufzuklären versucht, macht sie das aus wegen ihren eigenen Erfahrungen: "Als ich ein Kind war, hat mich meine Mutter auch beschneiden lassen," erzählt sie. Später, als ihre Menstruation einsetzte, bekam sie unglaubliche Schmerzen: "Manchmal konnte ich vor Schmerzen nicht zur Schule gehen! Ich weiß, dass viele Frauen bei der Menstruation, beim Geschlechtsverkehr und Entbindungen enorm leiden! Deshalb HASSE ich diesen Brauch und will allen sagen, wie schädlich er ist!"

Sana ist heute geschieden, sie hat keine Kinder. Mehr will sie darüber allerdings nicht erzählen.

Schockierender Film

Die Frauen vom nationalen Komitee für traditionelle Praktiken in Addis Abeba wissen, wie schwierig es ist, auf dem Land Aufklärungsarbeit zu leisten. Nur 35 Prozent der Bevölkerung Äthiopiens können lesen und schreiben, die Alphabetisierungsrate unter den Frauen liegt nur bei knapp 30 Prozent. Das Komitee versucht zunächst diejenigen zu erreichen, die in den Dörfern und Gemeinden am meisten respektiert sind: Gesundheitsarbeiter, die Beschneiderinnen selbst, traditionelle Geburtshelferinnen, Lehrer und die religiösen - moslemischen - Führer. "Wir versuchen den Menschen die schädlichen Folgen verständlichen zu machen", erzählt Abebech Alemneh, "Unser Videofilm über die Genitalbeschneidung ist so stark, dass er die Einstellung der Menschen wirklich ändern kann. Denn er zeigt den Vorgang einer Beschneidung und die Qualen, die die Mädchen dabei erleiden."

"Wir müssen uns vor allem an die Männer wenden", meint Helen Bekele, Mitarbeiterin im Büro der österreichischen Entwicklungszusammenarbeit in Addis Abeba, "Denn solange die Männer ihre Einstellung nicht ändern und auch eine Frau heiraten, die nicht beschnitten ist, werden die Frauen weiterhin beschnitten werden."

Die EZA will schon demnächst ein eigenes Projekt für die Abschaffung der Beschneidung initiieren. Sana ist skeptisch. Ihre Erfahrungen mit den Menschen in den Dörfern hätten gezeigt, dass die Sunna, die Klitorisbeschneidung, wie sie der Koran vorschreibe, nicht gestoppt werden könne. Zuerst müssten die üblesten Formen wie die Infibulation beseitigt werden, meint sie und setzt dabei auf die Hilfe der religösen Führer. Eine vielleicht pragmatische, jedoch höchst umstrittene Annäherung.

Das nationale Komitee für traditionelle Praktiken hält von Kompromissen jedenfalls nichts. Ziel müsse die vollständige Abschaffung aller Formen der Beschneidung sein, betont Abebech Alemneh und verweist auch auf eine geplante Revision des äthiopischen Strafgesetzes, durch die die Genitalbeschneidung endlich unter Strafe gestellt werden soll.

Bis das Gesetz freilich in der Praxis greifen wird, wird es noch ein weiter Weg sein.

Frauenrechte: 138 üble Bräuche

Artikel 35 der äthiopischen Verfassung verbietet alle Bräuche und Praktiken, die die Rechte von Frauen einschränken oder verletzen. Doch Theorie und Praxis klaffen weit auseinander. Das Nationale Komitee gegen schädliche traditionelle Bräuche, eine lokale NGO mit Sitz in Addis Abeba, hat in einer Studie landesweit 138 schädliche Praktiken erhoben.

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