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Milliarden Menschen sind nicht nur bloße Statistik
Bei der UN-Mammutkon- ferenz in Kairo wird erneut ein Rezept gesucht, um das rasante Bevölkerungswachstum zu bremsen.
Bei der UN-Mammutkon- ferenz in Kairo wird erneut ein Rezept gesucht, um das rasante Bevölkerungswachstum zu bremsen.
Zur Zeit leben rund 5,7 Milliarden Menschen auf der Erde, rund drei Viertel davon in Entwicklungsländern. Jeden Tag wächst die Bevölkerung um 260.000 Menschen, am stärksten in Afrika. Während vom 5. bis 12. September in Kairo über dieses rasante Wachstum heiß diskutiert werden wird, vollzieht sich allein in dieser Woche rund zwei Millionen Mal das Wunder der Geburt. Experten stufen diese demografischen Kurven allerdings als lebensbedrohlich ein und warnen vor dem wirtschaftlichen und ökologischen Kollaps, wenn die Entwicklung weitergeht wie bisher. Das drängt dazu, Politik zu machen. Eine Politik allerdings, die in die Intimsphäre zweier Menschen hineinreicht.
Die rund 15.000 Vertreter aus 180 Nationen sind jedenfalls optimistisch und für die 3. UNO-Bevölkerungs- konferenz gerüstet. Im Kem geht es in Kairo darum, mit einem Bündel von Maßnahmen die Weltbevölkerung bis zum Jahr 2050 auf etwa acht Milliarden einzupendeln. Das neue Rezept dafür heißt „integrativer Ansatz“1. Mari hat aus den beiden vorangegangenen Konferenzen (1974 in Bukarest und 1984 in Mexiko-Stadt) gelernt und eingesehen, daß Familienplanung nicht isoliert und partiell ansetzen darf. Sie kann nur zusammen mit anderen Maßnahmen im Bereich der Gesundheit, Ausbildung, Aufklärung, Wissensvermittlung… funktionieren. Vor allem die Frauen sind — erst jetzt! - in Kairo die wahren Hoffnungsträger. Sie gelten nun offensichtlich als die eigentlich „befugten“ zur Einbremsung der rasanten Menschenvermehrung. Immerhin: Etwa 20 Millionen oder rund ein Drittel aller Schwangerschaften in den Entwicklungsländern sind ungewollt, schätzt das Kinderhilfswerk UNICEF. Könnten die Frauen frei entscheiden, fielen die Geburten in den nächsten Jahren um je ein Drittel niedriger aus, wird kalkuliert.
TRADITION BEISEITE SCHIEBEN
Das Treffen droht aber wohl eher zu einem Schlagabtausch über Geburtenkontrolle, Abtreibung (siehe FURCHE 33/1994) und die noch offenen Finanzierungsfragen zu werden. Dabei sind die Problemstellungen schon so kompliziert genug:
Familien und Beziehungen entwickeln sich nicht spontan oder werden frei gestaltet. Sie passieren immer auf Basis und im Rahmen von kollektiv verbreiteten Kulturmustern. Auf diese kommt es letzlich an, wenn Regierungen ernsthaft eingreifen wollen. Die Frage ist nur, wie erfolgreich werden sie sein können, um des Überlebens der Menschheit willen die Achtung vor den vorgegebenen Kulturrealitäten beiseite zu schieben?
Man muß sich doch nur vor Augen halten, daß auch für die reichen Industrienationen das Problem neu und ungewohnt ist. Jahrtausendelang galt die demografische Entwicklung als „naturwüchsig“. Sie war in Europa ein politikfreier Bereich, in dem der Staat nichts herumzumanipulieren hatte. Man braucht sich weiters nur daran zu erinnern, daß im 20. Jahrhundert die Eingriffe in die familiären und intimen Bereiche die Kennzeichen eines politischen Totalitarismus sind.
Hier liegen die grundlegenden Konflikte und Reibungsflächen, die großen Schwierigkeiten für die betroffenen Entwicklungsländer. Sie werden im Grunde aufgefordert, in die angestammten Sicht- und Verhaltensweisen, Sitten, Bräuche und Traditionen ihrer Länder einzugreifen und nicht nur technische Mängel bei der Familienplanung zu beseitigen. Der rasante Zug, in dem die Völkerfamilie sitzt, wird daher wohl nicht so schnell aufzuhalten sein, selbst wenn man sich nicht nur mit Absichtserklärungen zufriedengibt, sondern mutig an die Einbremsung gehen will.
Es ist sicher ein Fortschritt, daß t die Probleme des Bevölkerungswachstums jetzt wieder massiv bewußt gemacht werden. Die Fülle und Kompliziertheit darf auch nicht dazu führen, daß sie danach wieder ignoriert und verdrängt werden. Aber nur, weil wir die Statistiken kennen und jetzt eine Mammutkonferenz tagt, werden wir nicht klarer sehen, was uns die Zukunft bringt.
Kairo bringt eine Zwischenbilanz in einem Prozeß, der schon lange läuft, aber noch nicht zu Ende ist. Die Frage ist, wie lange man sich bloße Besinnung noch leisten kann.
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